„Die soziale Fantasie von jungen Leuten ist unterentwickelt“

Attac muss den Sozialabbau im Kontext der Globalisierung kritisieren, sagt der Soziologe Roth. Dafür ist es nötig, sich mit den Formen von Armut in Deutschland zu beschäftigen

taz: Herr Roth, versinkt Attac wieder in der Bedeutungslosigkeit?

Roland Roth: Nein. Bei den Globalisierungsthemen genießt Attac hohes Ansehen und zieht immer noch mehr Erwartungen auf sich als andere. Aber das Problem ist, ob die Umsetzung der Globalthemen auf die nationale und lokale Ebene gelingt. Hier sind andere Interessengruppen schon länger unterwegs.

Wo ist das Problem?

Nun, man kann auf nationaler Ebene nicht so leicht punkten. Auf transnationaler Ebene erregte Attac schon mit einer relativ bescheidenen Forderung wie der nach einer Besteuerung von Finanztransaktionen Aufsehen, weil es eine Akteursschwäche gibt. Aber vor Ort halten Gewerkschaften, Parteien und Wohlfahrtsverbände die Themen besetzt – ein über Jahrzehnte gewachsenes System, in dem Attac, auch wenn es brüchiger geworden ist, nur schwer Gehör findet.

Das soll nun mit einer Belagerung von SPD-Büros gelingen?

Na ja, Protest ist allemal berechtigt. Will man nicht den Mond anbellen, braucht es jedoch kritische Analysen. Von Attac ist meiner Meinung nach zu erwarten, dass der Ab- und Umbau der Sozialsysteme in den Kontext neoliberaler Globalisierung gestellt wird.

Nur verstehen ja viele junge Leute nicht einmal, wie das Sozialsytem im eigenen Land funktioniert.

Ja, die soziale Fantasie von Nichtbetroffenen und jungen Leuten ist unterentwickelt – die haben keinen persönliche Bezug zum Thema. Viele haben sich schon damit abgefunden, dass die soziale Sicherung ihrer Eltern für sie nicht mehr bereit stehen wird. Es fällt auch schwer, sich die asoziale Gesellschaft der Agenda 2010 vorzustellen. Hunger- und Kriegsbilder aus der Dritten Welt sind moralisch anstößiger und machen es leichter, sich für weltweite Gerechtigkeit einzusetzen.

Liegt es vielleicht daran, dass es in Deutschland keine echte Armut gibt?

Nein. Es gibt hier separate Welten. Die Mittelschichten sehen nicht, wo das Elend wohnt.

Oder erweckt das, was in Deutschland Elend heißt, einfach kein Mitgefühl?

Die bürokratische Armutsverwaltung macht praktische Solidarität scheinbar überflüssig. Dennoch zeigen alle Studien, dass satte Mehrheiten für den Erhalt oder Ausbau des Sozialstaats sind – nur die Eliten sind für den Abbau.

Wie schafft Attac Solidarität?

Attac sollte Foren schaffen, wo sich neue Mittelschichten und die von den Agenda-2010-Reformen Betroffenen austauschen und Erfahrungen veröffentlichen. Wunderbar wäre, wenn es gelänge, die Europäische Sozialforen auszubauen. Dazu braucht es junge, ressourcenstarke Akteure, also Menschen mit Zeit, Wissen und Nerven, die außerdem eine Verklüngelung verhindern.

Und was machen die dann? Demonstrieren?

Nein, sie müssen Not und Ausgrenzung sichtbar machen. Mich hat an den Arbeitslosenprotesten in Frankreich beeindruckt, dass die Menschen in großen Lettern auf ihre Fensterläden schrieben: „Hier wohnt ein Arbeitsloser“. Was gelingen muss, ist: Skandalisierung. INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN