„Zuwanderer haben zu wenig Gewicht“

Demograf Ralf Ulrich erklärt, warum Zuwanderung das Alterungsproblem auch nicht mehr lösen wird

taz: Herr Ulrich, vor gar nicht langer Zeit hieß es noch, Zuwanderung sei die Antwort auf die Alterung der Gesellschaft. Warum ist das Argument aus der Renten- und Demografie-Debatte verschwunden?

Ralf Ulrich: Es ist nicht weg. Aber schon zur Hoch-Zeit der Diskussion ums Zuwanderungsgesetz hat man vergessen, das Kleingedruckte zu lesen: Zuwanderung kann den Alterungsprozess der Bevölkerung in nennenswerter Dimension nicht aufhalten.

Über welche Dimensionen sprechen wir?

Wenn man gemäß den seit 1960 gemachten Erfahrungen davon ausgeht, dass es einen Wanderungsgewinn von 200.000 Menschen im Jahr gibt, so wird sich das Verhältnis zwischen den über und den unter 60-Jährigen nur um wenige Prozentpunkte verschieben. Unterhalb der Zahl 1 Million Nettozuwanderer pro Jahr verschiebt sich dieser Altersquotient kaum.

Haben die UNO-Zahlen – dass Deutschland jährlich weit über 1 Million Zuwanderer bräuchte, um die Alterung zu stoppen, dann aber in zwanzig Jahren 160 Millionen Einwohner hätte – die Debatte abgewürgt, wie Deutschland von Zuwanderung profitieren würde?

Nein, aber sie hat deutlich gemacht, dass da in der Zuwanderungsdebatte vieles geschönt wurde. Es ist natürlich vollkommen o. k., zu zeigen, dass wir von Zuwanderung am Arbeitsmarkt profitieren können. Was jedoch die Alterung angeht, so sind die Zuwanderer ein zu kleines Gewicht im Spiel. Die Zuwanderung der 60er- und 70er-Jahre hat sich positiv auf die sozialen Sicherungssysteme ausgewirkt: Junge, leistungsfähige Menschen bereicherten die Wirtschaft und drückten das Rentenniveau auf den heutigen, hohen Stand. Damit war es sogar möglich, Aussiedler und DDR-Bürger in das Rentensystem aufzunehmen, die nicht eingezahlt hatten. Aber das war eine einmalige historische Situation, die so nicht wiederholbar ist.

Tja. Und jetzt?

Was die Demografie angeht, so sind die Karten der Zukunft bereits gelegt. Die Frage ist, wie sich die Gesellschaft darauf einstellt, dass sie altert. Hier muss man berücksichtigen, dass die Antizipation der Alterung schon Fakten schafft. Die Furcht vor der Alterung mag hysterische Züge tragen. Aber man muss verhindern, dass die Wirtschaft in der Erwartung dessen, was kommt, schon heute Standorte ins Ausland verlegt.

Warum sollte sie? Der Bericht der Rürup-Kommission zur Sanierung der Sozialsysteme sagt, Vorteil von Alterung und Schrumpfung ist, dass auch die Arbeitslosigkeit verschwindet …

Das ist eine Milchmädchenrechnung. Rürup ist zu optimistisch. Die Wirtschaft wird Standorte ins Ausland verlegen, weil sie dort neue Märkte vermutet und sich aus einem möglichst großen Arbeitskräftepool die besten Leute heraussuchen will.

Und wie wollen Sie die Stimmung, die solche faktischen Trends schafft, umdrehen?

Man muss Optimismus schaffen. Familienpolitisch bedeutet das zum Beispiel, Angebote zur Kinderbetreuung zu verbessern, Kindererziehungszeiten höher zu bewerten und vor allem: Das Steuerrecht muss so geändert werden, dass die Frau-bleibt-zu-Hause-Ehen künftig nicht mehr bevorzugt werden.

INTERVIEW: ULRIKE WINKELMANN