Ja zum Status quo

Die Gewerkschaften sind die Einzigen mit nennenswerter Macht, die sich gegen den Kult des privaten Erfolgs wehren. Doch fehlt ihnen ein überzeugendes Gegenkonzept

Machen wir uns nichts vor: Das Problem linker Politik wohnt nicht in Hannover und heißt nicht Schröder

Zwischentöne sind selten geworden und die seltenen leise. Über Gewerkschaften gibt es zwischen Rhein und Spree nur noch eine öffentliche Meinung: eine schlechte. Hohn-, Spott- und Abgesänge, anschwellend wie Bocksgesang, dröhnen durch die Republik anlässlich der Kongresse der IG Metall und der Ver.di.

Summiert man alle Einwohner Berlins, Hamburgs, Münchens, Leipzigs und Dresdens, hat man noch nicht die Zahl der Menschen zusammen, die jeden Monat einen beachtlichen Beitrag bezahlen, um gewerkschaftlich organisiert zu sein. Es werden weniger, aber es sind viele. Diese vielen sind – wenn die herrschende Meinung Recht hat – ausgesprochene Idioten: borniert, dem Fortschritt im Weg, auf ihren Besitzstand fixiert, fern jeder Einsicht in die sonst allseits anerkannten Notwendigkeiten. Könnte es sein, dass nicht nur die Gewerkschaft Defizite, sondern dass auch die herrschende Meinung blinde Flecken hat? Kann es sein, dass das Nein der Gewerkschaften zu der Reformpolitik der großen Berliner Koalition deshalb so lautstarke Empörung auslöst, weil es einen wahren Kern hat? Weil es das schlechte Gewissen all derer weckt, die diese Politik der raffenden Hand auch für ein Übel halten, sich aber damit beruhigen, dass es das kleinere ist?

Seit Kirche und Adel entmachtet sind, seit die moderne Arbeitsgesellschaft sich etabliert hat, hängen die Chancen eines guten Lebens an Vermögen und Arbeit. Alle, die kein Vermögen und keine Arbeit haben, die noch zu jung, schon zu alt oder zu krank sind, können ihre soziale Existenz nicht aus eigener Kraft sichern. Und alle, die das nicht können, werden in diesem unserem Land nicht für voll genommen.

Das ist die Sozialmoral der modernen Konkurrenz- und Erfolgsgesellschaft: Wer, wenn er schon nichts hat, auch noch nichts verdient, verdient auch keine Achtung. Die sozialstaatlich nur widerwillig kaschierte Missachtung, die Kindern, (Haus-)Frauen, Arbeitslosen, Alten und chronisch Kranken entgegenschlägt, hat hier ihre Wurzel. Armut ist keine Schande, aber verschämt und bescheiden sollen alle sein, die nicht von privaten, sondern von sozialen Einkommen leben.

Blicken wir nicht hinter 1945 zurück und nicht hinüber auf andere Erdteile, blicken wir nur auf das Beste, auf unsere wirtschaftswunderverwöhnte, hochmoderne, zivilisierte Bundesrepublik. In gerade mal zwölf Jahren ihres Bestehens hat sie es geschafft, alle (Männer), die Erwerbsarbeit suchten, einen Arbeitsplatz finden zu lassen. In all den anderen Jahren herrschte millionenfache Erwerbslosigkeit, die auch das laufende Jahrzehnt über andauern dürfte. Gewiss, die Einzelnen können etwas dazu beziehungsweise dagegen tun, Arbeit zu finden oder zu verlieren. Aber Arbeit für alle gibt es eben nicht – die Tatsache, dass Millionen keine Arbeit finden, hat vorweg der Markt schon entschieden. Es ist ein Wettlauf, bei dem feststeht, dass es Millionen Verlierer gibt. Sie werden zu Versagern gestempelt, damit nicht darüber geredet werden muss, dass unsere Arbeitsordnung hinten und vorne nicht mehr stimmt.

Und unsere Vermögensordnung? In Deutschland verfügt die zweite Hälfte der Bevölkerung über etwa 6 Prozent des Volksvermögens. Reden wir über die erste Hälfte. Die Sozialstatistiken müssten Trauerränder tragen. Die Kurven der Millionäre und der Sozialhilfeempfänger gehen synchron nach oben. Großzügige Pensionszusagen, dicke Zuschüsse zum Krankengeld, noble Abfindungen, Luxusdienstwagen, zusätzliche Urlaubstage, kostenloser Gesundheitscheck, Gratissteuerberatung, günstigere Wohnungsbaudarlehen: solche Nebenleistungen finden sich mit einiger Regelmäßigkeit in Managerverträgen – zusätzlich zu den zweistelligen Gehaltssteigerungen ihrer siebenstelligen Jahreseinkommen.

Oder nehmen wir die Millionäre in kurzen Hosen, die von ihren Vereinen gepampert, in Watte gepackt werden wie Königskinder. Bundesligastars versorgen sich nach dem Motto „Meine Villa, meine Limousine, meine Werbeverträge“ – Vater Verein kennt die Verkäufer, nennt die Makler, hier wirst du geholfen. In Sachen Geldanlage, Versicherungen, Altersvorsorge beraten Experten provisionsfrei. Ein Bundesligamanager bezeichnet die Summe von all dem und manchem mehr als das „Gesamtpaket Rundumversorgung“.

Unsere Gesellschaftsordnung fördert die Gewinner und fordert die Verlierer. Sie produziert Sozialfälle zwingender und häufiger als unser Verkehrssystem Unfälle. Aber solange die öffentliche Meinung nicht die Ordnung zum Problem erklärt, sondern die Menschen, die in ihr nicht zurechtkommen, werden auch „linke“ Regierungen weich gespülte liberale bis rechte Politik machen. Die Berliner Reformpolitik ist Realpolitik in dem klassischen Sinn, dass sie die herrschenden Strukturen nicht hinterfragt. Deshalb sucht sie nach Wegen, Arbeitslose und Rentner billiger zu machen, Kranke mehr zahlen und Alte länger arbeiten zu lassen. Der Zustand der Regierungspolitik verrät vor allem etwas über den Zustand der Gesellschaft. Der moderne Staat ist kein beliebig dirigierbares Machtinstrument, sein Handeln muss im Erwartungshorizont der Gesellschaft liegen. In der Ausübung seiner Funktionen kommt er an den dominanten Strukturen, auch an der herrschenden Sozialmoral nicht vorbei. Ohne ein ökologisches Bewusstsein etwa hätte es keine ökologische Regierungspolitik gegeben.

Nach herrschender Sozialmoral verdient der keine Achtung, der nichts hat und nichts verdient

Machen wir uns deshalb nichts vor: Das Problem linker Politik wohnt nicht in Hannover und heißt nicht Gerhard Schröder. Das Problem linker Politik ist ihre mangelhafte gesellschaftliche Verankerung, ihre Unfähigkeit, Anschluss zu finden an das Bewusstsein von Mehrheiten, nicht akzeptiert, kaum verstanden, ja nicht einmal hinreichend beachtet zu werden.

Die Gewerkschaft ist die einzige Organisation mit nennenswerter Macht, die sich gegen den Kult des privaten Erfolgs wehrt, die sich für soziale Verantwortung stark macht. Deshalb wird sie von den Realpolitikern dieser Republik zum Sündenbock gemacht. Doch einen Sündenbock zu benennen ist ein Opferritual, keine Aufklärung.

Die verbalen Prügel, die Metaller, Ver.dianer und Co. beziehen, sollen von den unsozialen Hieben ablenken, die an die Schwachen ausgeteilt werden. Das engagierte Nein der Gewerkschaften zum Abbau der Sozialsysteme hat mehr Freunde, als die etablierte Politik wahrhaben will. Das Problem ist das perspektivlose gewerkschaftliche Ja zum Status quo, das dahinter steckt. Ihr Nein speist sich aus versiegenden Quellen. Für die postindustrielle Zukunft der Arbeit und für die Zukunft des Sozialen über Bismarck hinaus machen sie keine wegweisenden Angebote. Wo die Orientierungskraft fehlt, schwindet auch die Mobilisierungsfähigkeit. Sich an diesem gemeinsamen Defizit im streitbaren Dialog abzuarbeiten, das wäre die Aufgabe, der sich kritische, linke Politik zu stellen hätte. HANS-JÜRGEN ARLT