Schuld und Bühne

Für seinen neuen Film „Dogville“ hat Lars von Trier die Welt als Guckkasten nachgebaut. Wie in einem Lehrstück verwandelt sich dort der US-amerikanische Community-Glaube in Fremdenhass. Kann man sich mit Nicole Kidman brechtisch amüsieren?

von TOM HOLERT

Der Film beginnt mit einer Aufsicht auf eine Landkarte. Im Maßstab 1:1 sind die Wege und die Grundstücke, die Gärten und sogar manche Lebewesen der kleinen Ortschaft mit weißer Farbe auf dem Boden einer Studiobühne verzeichnet. Die leibhaftigen Menschen dort unten bewegen sich zwischen diesen Markierungen wie die Ratten in einem übergroßen Skinner’schen Kasten. Der Kamerablick von oben repräsentiert das allwissende Auge des Experimentators. Vom ersten Bild an ist klar: Hier wird etwas ausprobiert, getestet, modelliert.

Dann befindet sich die Kamera plötzlich am Boden, inmitten der Bewohner dieser Versuchsanordnung. In zitternden Schwenks und gezoomten Nahaufnahmen verfolgt sie, wie die Schauspieler imaginäre Türen öffnen und an imaginären Wänden lehnen, wie sie schweigen, grübeln, reden und den stummen Appellen der Zeichen Folge leisten. Nur ein paar Möbel, die Fassade eines Ladengeschäfts, eine Kirchturmspitze und das eine oder andere Automobil bereichern als Requisiten diese Diagrammwelt.

Die Modellstadt, eingerichtet in einem ehemaligen Hangar im schwedischen Trollhättan, heißt Dogville und soll in den Rocky Mountains liegen, ein Pappmachéfelsen und das Holzgerüst eines Minentunnels deuten es an. Die Bewohner tragen die einfachen Kleider der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts, der USA der Depressionszeit. Sie besitzen nicht viel außer ihrem nackten Leben, was durch die lagerartige Kulissenabstraktion unterstrichen wird.

Eine weise-wohlwollende Erzählerstimme aus dem Off (im Original: John Hurt) beschreibt nicht nur die Gemütslage, sondern auch die äußeren Bedingungen und Handlungen der Protagonisten, als wären die Zuschauer blind und ein wenig schwach von Begriff dazu. Wie in einem Roman des 18. Jahrhunderts wird die Geschichte in (neun) Kapitel eingeteilt, deren lange Überschriften das jeweils folgende Geschehen zusammenfassen – so steht der Erbauung und der Belehrung nichts im Wege. Zunächst werden die armen Leute von Dogville vorgestellt. Brave Hinterwäldler, die sich in der Entbehrung eingerichtet haben. Sie leben fernab von den Verführungen der Stadt, in die sich nur der Fuhrunternehmer begibt, um dort die wenigen Güter, die der Ort hervorbringt, auf dem Markt zu verkaufen – und ins Bordell zu gehen.

Kamera und Erzählerstimme lenken das Interesse auf Tom Edison jr. (Paul Bettany), einen angehenden Literaten und Moralisten, der keine Zeile zu Papier bringt, aber im Missionshaus hochtrabende philosophische Predigten über das menschliche Problem des „Entgegennehmens“ hält. Überzeugen will er bei diesen Gelegenheiten unter anderem die Ladenbesitzerin (Lauren Bacall), die Tochter der Hensons, die ihr Geld mit dem Abschleifen billiger Gläser verdient (Chloë Sevigny), die bildungsbesessene Vera (Patricia Clarkson), Frau des wortkargen Apfelbauern (Stellan Skarsgård), und seinen Vater, Tom Edison sr. (Philip Baker Hall).

Das in Jahren der Abgeschiedenheit gewachsene psychosoziale Gleichgewicht dieser Gemeinschaft wird auf die Probe gestellt, als die junge, urbane und vor reiner Schönheit strahlende Grace (Nicole Kidman) auftaucht. Die Anmutige behauptet, auf der Flucht zu sein, will sich aber dem Ort nicht aufdrängen. Ihre Ankunft zieht den Besuch von bedrohlichen Gangstern nach sich, die eine Visitenkarte hinterlassen. Auch ein Polizist kommt vorbei und hängt eine Vermisstenanzeige auf.

Mit einer seiner „Veranschaulichungen“ vor versammelter Gemeinde gelingt es dem Selfmade-Philosophen, die Bewohner von Dogville davon zu überzeugen, dass die Ankunft von Grace eine Prüfung darstellt. Kann die Gemeinschaft eine Gabe entgegennehmen, das Geschenk einer Fremden, die sich ausliefert? Und die Gemeinschaft ringt sich durch, der Frau Unterschlupf zu gewähren. So „gibt“ sich Grace der Stadt, versieht kleine Dienste in den Haushalten und Geschäften, macht sich allenthalben nützlich.

Bald wird Grace zur „amazing grace“. Ihre Schönheit bringt ein luxuriöses, helles Licht in den Alltag. Die Herzen fliegen der Außenseiterin zu. Sie wird nicht nur akzeptiert, sondern geliebt. Die Zeit vergeht, der Sommer kommt, und die kleine moralische Tauschökonomie scheint tadellos zu funktionieren. Am Unabhängigkeitstag gipfelt das Integrationsidyll. In Feierstimmung bedankt sich Dogville bei Grace dafür, dass sie sich so zeigt, wie sie ist. Man schätzt an der Fremden das Eigene.

Mehr geht nicht. Und schon ändert sich das Blatt. Die Vermisstenanzeige wird durch einen Steckbrief ersetzt, eine Belohnung ausgelobt, die Flüchtige nicht nur als vermisst, sondern als gefährlich bezeichnet. Darauf verschärfen sich die Bedingungen ihres Asyls. Weil die Gemeinschaft geschützt werden muss, wie die Leute von Dogville sagen. Man findet nun Geschmack an der Ausbeutung der Fremden, deren Unbekümmertheit und Freundlichkeit auf einmal als aufdringlich und überheblich betrachtet werden. Deshalb muss sie immer härter schuften, und schließlich nimmt sich der erste Mann das Recht heraus, sie zu vergewaltigen. Hinter verschlossener Tür, für alle einsehbar, denn das Innen der häuslichen Gewalt ist vom Außen der Straße nur durch einen Strich getrennt.

Die Demütigung der Fremden schweißt die Gemeinschaft noch enger zusammen. Auch Tom Edison jr., ihr Fürsprecher, der von Liebe rhapsodiert, aber sich unter dem Druck des Gemeinschaftssinns als Phrasen dreschender Schwächling erweist, wird Grace verraten. Ein Fluchtversuch scheitert, weil man ihr eine Falle gestellt hat. Man legt ihr einen Eisenring mit Glocke um den Hals und kettet sie an ein Wagenrad. Aus der willkommenen Asylantin wird die geschundene Gefangene, an der sich jeder schadlos halten kann, und Grace darf dies nicht einmal als Strafe ansehen. Sie steht jetzt außerhalb des moralischen Systems der Gemeinschaft, die der Fremden ein Ein-Personen-Ghetto als rechtsfreien Raum zuweist.

So ist nach acht Kapiteln und mehr als zweieinhalb Stunden die Zeit reif für das Strafgericht. Die Erlösung naht in Gestalt der Gangster. Im Fonds eines Cadillacs hat James Caan einen skurrilen Auftritt als Moralist in eigener Sache. Überheblichkeit und Arroganz sind Stichworte, die gegen Barmherzigkeit und Vergebung in Position gebracht werden. Am Ende obsiegt die Politik der Tabula rasa: Von Dogville bleibt nicht mehr als das Bild eines bellenden Hundes, der während des ganzen Films nur als Zeichnung am Boden des Tatorts existierte.

Als wäre dieses Schlussbild mit seinen Hobbes-Konnotationen nicht Kommentar genug, folgt mit dem Abspann eine weitere Bedeutungsebene, die Lars von Trier endgültig den Ruf eines Antiamerikanisten einträgt. Zu „Young Americans“, David Bowies Bestandsaufnahme eines durch und durch kaputten Amerikas aus den Siebzigerjahren, werden berühmte Fotografien aus den Dreißiger- bis Sechzigerjahren gezeigt, die Armut und Obdachlosigkeit in den USA dokumentieren. Mit diesen historischen dokumentarischen Bildern, die zum Teil, wie etwa in der New-Deal-Ära, auf staatliche Förderprogramme zurückgehen, gibt sich das Projekt „Dogville“ den Anstrich von Gesellschaftskritik mit Geschichtsbewusstsein.

Dabei ist sehr fraglich, welches die gesellschaftskritischen Aspekte in diesem Drama über Sündenböcke, Unschuld, Doppelmoral und Tierhaftigkeit des Menschen sein könnten. Auch Lars von Triers Kritik an der Einwanderungspolitik seines Heimatlandes Dänemark hilft wenig. Denn die wirklich berührenden und betörenden Momente von „Dogville“ basieren alle auf jener experimentellen Struktur, die mit universalisierenden Erklärungen der menschlichen Taten auch die Kontrolle über diese Taten gewährleistet soll. Die Auf- und Übersicht, mit der sich Lars von Trier seine Autorität bestätigt, entzieht zugleich jeder politisch brauchbaren Aussage den Boden. Stattdessen verschmelzen die Heterotopien von Laboratorium, Panoptikum und Theaterbühne und die visuelle Sprache des Dokumentarismus (Video, Handkamera usw.) mit dem Apparat des Films (Studio, Stars) zu einer Lars-von-Trier-Maschine allgemeiner Gültigkeit.

Insbesondere die Mittel des Theaters versucht „Dogville“ für diese Produktion von idiosynkratischen Gewissheiten zu nutzen. Für sein Kino als moralische Anstalt holte sich der Regisseur Anregungen bei minimalistischen Theaterproduktionen, etwa bei der neunstündigen Fernsehfassung einer aufs Äußerste reduzierten Inszenierung von Charles Dickens' Roman „Nicholas Nickleby“ durch die Royal Shakespeare Company aus dem Jahr 1982. Vor allem aber macht sich der anhaltende Einfluss Brechts bemerkbar. Ein insistierender V-Effekt prägt diese dreistündige Kinoerfahrung, nur dass die Erklärungen und Schlussfolgerungen nicht wie bei Brecht materialistisch, sondern anthropologisch ausfallen und dazu mit penetranten religiösen Tönen durchsetzt sind.

Neben formalen Elementen hat sich Lars von Trier auch bei der Rachefantasie der „Ballade von der Seeräuber-Jenny“ aus Brechts „Dreigroschenoper“ bedient. Dieser Vergeltungstraum eines Küchenmädchens bildet die unmittelbare Vorlage für die Auflösung seiner Geschichte. Hier wie dort ist die Gedemütigte im Besitz eines tödlichen Wissens, hier wie dort zahlt ein menschlicher Fußabtreter mit vielfacher Münze zurück.

Spätestens seit der „Golden Hearts Trilogy“ aus „Breaking the Waves“ (1996), „Idioten“ (1998) und „Dancer in the Dark“ (2000) mit ihren Geschichten unschuldiger, vom Schicksal und ihren Mitmenschen geknechteter und getöteter Frauen, steht Lars von Trier in dem Ruf, nicht unbedingt Vertreter einer Ästhetik feministischer Ermächtigungsstrategien zu sein. Jetzt kehrt er dem Typus der Märtyrerin, der ihn mit seinem Vorbild Carl Theodor Dreyer verbindet, vorläufig den Rücken und reiht sich neben Quentin Tarantino oder Christian Petzold ein, die ihre aktuellen Filmen ebenfalls rächenden Frauen widmen.

Als die Entscheidung gefallen war, dass „Dogville“ in Cannes keine Goldene Palme erringen würde, äußerte sich Nicole Kidman etwas besorgt darüber, wie der Regisseur wohl auf diese Nachricht reagieren würde. Passend zu dieser, wie ernst auch immer gemeinten, Besorgnis zeigt der Trailer zu „Dogville“ die Schauspieler in engen Beichtkabinen, Zeugnis ablegend über die unerträglichen Bedingungen der Dreharbeiten mit diesem Wahnsinnigen. Am Ende der Bekenntnisse seines Ensembles steht das Bild des Regisseurs, der das katholische Ritual der Beichte schätzt. Er sagt ausnahmsweise kein Wort. Dafür grinst er vielsagend und etwas schuldbewusst, als hätte man ihn bei einem gelungenen Streich ertappt. Der Film-als-Sühne folgt bestimmt.

„Dogville“. Regie: Lars von Trier. Mit Nicole Kidman, Lauren Bacall, Ben Gazzara u. a., Dänemark/Schweden 2003, 177 Min.