Wer ist die Victoria?

Bundeskanzler Schröder hat mit dem Begriff der „viktorianischen Armenfürsorge“ für die Unions-Position die aktuelle Sozialstaatsdebatte bereichert. Zumindest jene am Stammtisch

aus Berlin ULRIKE WINKELMANN

Dies vorab: Der Kanzler hat nicht gesagt, die Union wolle den Sozialstaat durch „viktorianische Armenfürsorge“ ersetzen. Der Kanzler hat im Interview mit der SPD-Fanzine Vorwärts auf die Frage, was an der Agenda 2010 sozialdemokratisch sei, vielmehr geantwortet: „Ich könnte es mir leicht machen …“ und den Unterschied zwischen der Politik Angela Merkels und der SPD-Gesundheitspolitik so benennen: „Das ist, wenn man so will, moderne Sozialdemokratie gegen viktorianische Armenfürsorge.“ Und dann folgt, warum dem Kanzler die Sozialkürzungen selbst am meisten wehtun. Gerhard Schröder findet die Aussage „Wir sind die Guten, die anderen die Bösen“ also selbst etwas platt.

Trotzdem hat er mit seiner „viktorianischen Armenfürsorge“ die aktuelle Sozialstaatsdebatte wirklich bereichert. Bestimmt wird der Begriff es bis zum Wochenende noch dreimal um die Biertische geschafft haben, so viele historische Vergleichsmöglichkeiten tickt er an.

Es ist ein kleiner Junge, der wie niemand sonst dafür steht, was unter viktorianischer Armenfürsorge zu verstehen ist. Oliver Twist wurde als Romanheld im selben Jahr geboren, in dem Königin Victoria den Thron bestieg: 1837. Charles Dickens ließ Oliver in einem Armenhaus in der Provinz aufwachsen, flüchten und in einer Londoner Diebeshöhle landen, aus der ein gütiger reicher Mann ihn retten will.

Schrecklich trauriger Schmonzes; auch die Königin, damals noch Teenager, soll geäußert haben, dass Dickens schon mal witziger gewesen sei. An Oliver deklinierte Dickens durch, was die erst viel später so benannte viktorianische Armenfürsorge ausmachte: das Erkennen von Armut, die Frage nach ihrer Unschuld, den Wunsch, Schlimmeres zu verhindern, das Dilemma, wenn Abhängigkeit durch Abhängigkeit ersetzt wird – und die Heuchelei, als Reicher über all das wohlfeil zu plaudern.

Die Idee hinter der Drohung, Armen die Einweisung ins Armenhaus anzudrohen, war, die seit Beginn des Jahrhunderts steigenden Armensteuern in den Griff zu bekommen. Denn das Zuschusssystem, das armen Familien staatliche Hilfsgelder gewährte, wenn der Lohn nicht reichte, hatte sich als Fass ohne Boden erwiesen und drückte zudem die Löhne. Verglichen mit den Schrecken der Armenhäuser erschien dagegen noch die niedrigste Arbeit erstrebenswert.

Ideologische Rechtfertigung hierfür lieferte der Politökonom Thomas Malthus, der sagte, dass die Fürsorge die Armen nur in Armut halte, ihnen die Selbstständigkeit nehme und im Übrigen ihre Vermehrung fördere. Ein anderer Ökonom namens Adam Smith widersprach: Das Hauptproblem an der Armenfürsorge war seiner Ansicht nach, dass sie die Mobilität von Arbeitskräften beschränke. Schließlich neigten Arme dazu, dort zu bleiben, wo sie etwas geschenkt bekämen. Insgesamt waren sich jedoch die Meinungsbildner einig: Armut wird durch übertriebene Fürsorge nur verfestigt, und deshalb muss staatliche Hilfe pädagogisch ummantelt werden, um die Armen an die Arbeit heranzuführen: Ertüchtigung durch Dankbarkeit – so sollte es gehen.

Die Armut ging davon nicht weg. Jahrzehntelang stritten Philantrophen, Ökonomen, das ganze viktorianische Großbürgertum darüber, welche Armen Hilfe bekommen sollten und welche nicht: Wie waren die „verdienenden Armen“, die deserving poor, aus der Masse der faulen und Alkohol trinkenden Armen herauszufiltern? Und was würde geschehen, wenn das Elend Füße bekommen und aus dem East End von London sich in den reichen Westen der Stadt aufmachen würde? Bloß das nicht!

Manche sagen, seit damals sei der britische Wohlfahrtsstaat noch kaum weiter gekommen: Sei bei der reinen Armutssicherung hängen geblieben, habe seinen imperialen Reichtum erst spät etwa in eine drittklassige steuerfinanzierte allgemeine Krankenversorgung gesteckt. Ein bisschen klingt das auch beim Kanzler an – ebenso wie der Stolz darauf, dass der deutsche Sozialstaat, oha, sich dank Beitragsfinanzierung von den Steuern gewissermaßen emanzipiert habe.

Ob öffentliche Leistungen mit niedergeschlagenenen Augen dankend entgegengenommen oder selbstbewusst als Recht eingeklagt werden, hat aber gar nichts damit zu tun, ob sie steuer- oder beitragsfinanziert sind. Die Frage ist vielmehr, ob alle ein Recht darauf haben oder ob jemand aussucht, wer wie viel haben darf. Zurzeit ist es die SPD, die ihre deserving poor sucht.