Die eigene Art zu leben namens Blues

Nun ist es also amtlich: Cassandra Wilson ist, laut „Time Magazine“, die „beste Sängerin Amerikas“. Aber das wusste man ja vorher schon. Auf ihrem neuen Album „Glamoured“ betreibt die 48-Jährige weiter ihr Projekt einer unsentimentalen Reise zum Geburtsort der populären Musik – zum Mississippi

Der Sänger hat eine Verantwortung gegenüber dem Song und dem Publikum

von CHRISTIAN BROECKING

Sie raucht Zigarillos und redet über Nina. Ohne Nina Simone keine Cassandra Wilson, sagt sie. Kurz und bestimmt, wie die Songs, die sie selbst singt. Ninas Songs waren wichtig für sie, für ihr Amerika, sie kommentieren wichtige Etappen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, sie gaben dem schwarzen Amerika Kraft. Die Songtexte waren kämpferischer als heutzutage, weil es einen politischen Rahmen für diese Lieder gab.

Vor ein paar Wochen hat Cassandra Wilson in New York an einer Nina-Simone-Benefizveranstaltung mitgewirkt. Das ist ihre Art von gesellschaftlichem Engagement, Galas zugunsten der Aids-Forschung, Spenden sammeln für Kinder aus verarmten Familien. Der Erlös des Nina-Simone-Benefiz soll an den Emergency Musicians Fund gehen, der arbeitslose Jazzmusiker unterstützt, die auf der Straße leben. „Wenn man mich anruft, komme ich“, sagt Cassandra Wilson. Vom Time Magazine wurde sie unlängst als „beste Sängerin Amerikas“ bezeichnet.

Ihr großer Durchbruch kam Mitte der Neunziger mit zwei Alben für das Traditionslabel Blue Note, „Blue Light ’Til Dawn“ und „New Moon Daughter“, für das sie auch einen Grammy als beste Jazzsängerin erhielt. Als Opener sang sie damals „Strange Fruit“, ein Song, in dem die Lynchjustiz an Schwarzen angeprangert wird, von Lewis Allan geschrieben und von Billie Holiday zum Protestsong des schwarzen Amerikas gemacht – eine Erinnerung an den Rassismus, eines der Grundübel der amerikanischen Gesellschaft.

Tatsächlich litten die großen Frauen des Jazz aber nicht nur unter dem Rassismus, sie quälten sich auch mit Männern, die nicht in ihr Leben passten. Sowohl Billie Holidays als auch Nina Simones Autobiografien sind diesbezüglich große Elegien des Scheiterns. Auch für Wilsons anderes Vorbild, die Sängerin Abbey Lincoln, ist es immer schwierig gewesen, sich der öffentlichen Rolle zu entziehen. „Man ist allein in diesem harten Business, auch heute noch“, resümiert Wilson. „Man braucht ein sehr privates Leben, wenn man öffentlich ist. Beziehungen, die andauern. Man gibt der Öffentlichkeit so viel, dass man schnell isoliert ist. Abbey hat ihre Wege, Partnerschaften zu finden und zu pflegen. Ich habe es da nicht leichter, auch wenn diese großen Frauen uns viele Kämpfe abgenommen haben.“

Wilson lebt allein mit ihrem 14-jährigen Sohn, ohne Kindermädchen und Haushaltshilfe. Die große afroamerikanische Sängerin Shirley Horn unterbrach einst ihren Beruf für lange Zeit, um ihre Tochter großzuziehen. Heute klagt Horn darüber, dass ihre Tochter kein Interesse an Musik hat. „Mein geschiedener Mann lebt auch in New York, und er ist ein prima Vater“, sagt Wilson. „Wenn ich unterwegs bin, lebt der Junge bei ihm.“

Selbstschutz ist ein wiederkehrendes Thema in ihrer Musik. Dass sie ihren Unwillen abgelegt hat, Interviews zu geben, mag dann wohl auch vor allem einer Veränderung der konjunkturellen Rahmenbedingungen im Jazz geschuldet sein. Dass etwa ihr Berliner Konzert in diesem Sommer abgesagt wurde, hatte mit einem stockenden Kartenverkauf zu tun.

Ihr neues Album „Glamoured“ (Blue Note) enthält neben eigenen Stücken Coverversionen von Sting, Muddy Waters und Abbey Lincoln. Wie schon beim Vorgänger, der Blues-Konzept-Platte „Belly Of The Sun“, wurden wieder einige Stücke in der Gegend am Mississippi aufgenommen, wo Wilson vor knapp 48 Jahren geboren wurde.

„Mississippi ist der Geburtsort der populären Musik“, so Wilson. „Da fing alles an, Blues, Jazz, R & B, Bluegrass. Für mich ist es die Rückkehr in eine Kultur, die sehr warm und gastfreundlich ist. Es ist spannend, New Yorker Musiker dorthin zu bringen, die auf diese Weise zum ersten Mal diese Kultur erleben. ‚Belly Of The Sun‘ war wie eine Pilgerfahrt, wir trafen Blues-Leute, die das Delta nie verlassen haben, und bekamen ein Gefühl dafür, wie diese Musik entstand. Wenn man sieht, wie die Leute da unten leben, bekommt man einen anderen Zugang zur Interpretation dieser Musik. Man sieht es nicht nur, man atmet es ein, man isst es, alles ist erfüllt von jenem Lebensstil.“ Der Saxofonist Archie Shepp sagt, dass Blues eine eigene Art zu leben sei. „Genau“, fügt Wilson hinzu, „wenn man das Jazzleben will, dann geht man nach New York. Aber Phrasing, Timing und die Räume zwischen den Noten, das ist im Blues genauso wichtig wie im Jazz. Es geht um das Erbe einer Kultur.“

Ob sie glaube, dass ihre Generation es leichter habe? Man habe nicht so viele Restriktionen, sagt Wilson, wie die Musikerinnen in den Sechzigern. Doch die Verantwortung des Sängers gegenüber dem Song und dem Publikum sei geblieben.