Ein seltsames Gestrüpp namens Liebe

Nicht-Beziehungs-Stücke haben Konjunktur an deutschen Bühnen. Hier ist ein schaurig-schönes: „Lantana“ von Andrew Bovell in Hamburg

Die Fähigkeit zu vergessen sei nur dem Kind, dem Genie und dem Unschuldigen zu Eigen; aber vergessen zu können, mache einen erst wie geschaffen für das Glück. Diese Art Anleitung zum Glücklichsein von Albert Camus in „Der glückliche Tod“ würde man dem Polizisten, der Psychotherapeutin, dem Anwalt und all den anderen mediokren Lebenslügenerfindern in dem Theaterstück „Lantana“ – in Deutschland uraufgeführt nun am Hamburger Thalia Theater – gerne zur Lektüre auf den Nachttisch legen. Nützen würde es natürlich nichts. Nicht nur, weil ihnen der Ballast des Lebens im Schlepptau schwer geworden ist. Sondern weil ihnen mit Worten so schlecht beizukommen ist. Sie sind Wortverdreher, die sprach-tänzelnd ihre selbsterhaltenden Täuschungsmanöver fortsetzen.

Zu wenig haben diese Figuren an Wärme, Leidenschaften oder einfach nur an Gier. Zu viel an Ängsten, beruflichen Verpflichtungen oder Erinnerungen, die sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen. In ihrem Drang zur Klärung umkurven sie messerscharf die eigentlichen Konflikte und messen diesem Vorgang unheimliche Bedeutung bei. Das formal präzise ausgearbeitete Stück des australischen Dramatikers Andrew Bovell schließt eng an die Nicht-Beziehungs-Dramen an, die zur Zeit auf den Bühnen Konjunktur haben, und übertrumpft diese sogar noch in ihrer düsteren Undurchdringlichkeit der Verhältnisse. Mit Stephan Kimmig hat es einen Regisseur gefunden, der gerne menschliche Brüchigkeiten offen legt. Den Zerfall entfesselt er auch dieses Mal mit ausgefeilter Präzision. Ein Abend, der immer packender wird, immer intensiver und immer verrätselter.

Drei Teile hat das Stück, die in ihrer Reihenfolge keiner erzählerischen Linearität folgen. Zwei Paare treffen sich in einem Hotelzimmer, bereit, einen Seitensprung zu riskieren. Nur ein Paar macht daraus Ernst, aber gestehen werden die Ehepartner, die nicht betrogen haben. Im zweiten Teil treffen sich Sarah und ihr ehemaliger Geliebter Neil, den sie vor Jahren verließ, ihre Therapeutin Valerie und deren Ehemann. Später offenbart sich, dass John ein Verhältnis mit Sarah hat. Warum er Valerie nicht verlassen hat? „Wie verlässt man eine Frau, deren Ehe auf dieser Erwartungshaltung gegründet ist, die nur darauf wartet, dass es geschieht?“, fragt John zurück.

Solche Doppelbödigkeit und Doppelmoral ziehen sich wie ein roter Faden durch die Beziehungen, und am schlechtesten steht die Ehe als bürgerliches Massenphänomen da: als Sehnsuchtsort und als Grab der Liebenden. Kimmig zieht mit behutsamer wie irritierender Langsamkeit alle diese Fäden zusammen. Ein seltsames Gestrüpp werden all die menschlichen Motive, Antriebe und Ängste, wie Lantana, die stachlige Buschpflanze, die im weiten australischen Hinterland urwaldartig wuchert.

Es gibt eine Verfilmung dieses Stoffes, sie zeigte als Erstes die Leiche der toten Valerie, die aus dem Gestrüpp ragte, um über die angedeutete Krimihandlung die Beziehungen zu knüpfen. Kimmig greift alles frei aus der Luft. Erst ist es noch das Hotelzimmer, eine Situation in einer Bar, das Wohnzimmer, in der die Figuren ein wenig spielen dürfen. Dann wird es klaustrophobischer. Der Raum: eine Art Rohbau, in den es in Blecheimer hineinregnet. Dann ein Keller-Swimmingpool, in dem das irisierende Licht die eiskalte Atmosphäre vorgibt. Dort sitzt Jörg Pose als Anwalt John auf einem Stuhl, erzählt stockend wie ein schuldbewusster Mörder in einem Polizeiverhör von Valeries letzten Stunden. Seine Selbstquälererei ist kaum auszuhalten und ändert doch gar nichts: In existenzieller Blindheit treibt er endgültig der Todesstarre entgegen. Die Leere zwischen den Menschen wächst und wächst, bis sie sterben. Ihnen gilt mit brutaler Zuneigung dieser schaurig-schöne Abend.

SIMONE KAEMPF