Der Fluch der Unruhe

Der Kapitalismus ist keine Barbarei, sondern ein vertrautes Wesen. Es ist sanft, verspielt und rastlos, hat nun eine private Zahnversicherung, trägt teure Turnschuhe und grinst. Seine Botschaft lautet: Du bist so frei! Und genau da liegt das Problem

Wir führen Buch, ziehen Bilanz – und der Saldo spricht immer gegen uns

von JAN ENGELMANN

Ein friedlich schlummerndes Kind auf dem Rücksitz einer Limousine, das gerade einen Extraschuss Milch verdaut; ein unentwegt Gummibärchen kauender Grußonkel, der eine lustige Überraschung in jedem siebten Ei verspricht. Böse Überraschungen, gar Schicksalsschläge sind hier nicht zu erwarten, nur der wärmende Zyklus des Immergleichen. Die Bilder, welche uns die Instant-Epen der Werbung tagtäglich überbringen, lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Der Kapitalismus ist sanft.

Seine bevorzugten Farben sind in Pastell gehalten, seine Haut fühlt sich gut an. Seine Worte sind beruhigend, einer fürsorglichen Mutter gleich, welche die bösen Nachtgespenster routiniert zu vertreiben weiß. Der Kapitalismus ist ein Alleinerziehender mit uneingestandenen Bindungsängsten. Er erledigt die Betreuung seiner Stammhalter klaglos in der sicheren Gewissheit, dass er irgendwann auch etwas davon haben wird. Das Alter, der von der ganzen Plackerei geschädigte Rücken, die karge Rente – besser, man ist dann nicht allein.

In der Erziehung wird er selten laut, lässt generell ein Laissez-faire walten. Seine Weisungen erteilt er unmerklich und subkutan, wie die Impfung beim langjährigen Hausarzt. Nie spart er mit Lob, zeigt sich freigiebig und als fantasievoller Schenker. Er diskriminiert nichts und niemanden, Abweichung und Streit sind ihm stets willkommen. Nur selten rutscht ihm einmal die Hand aus, und wenn, dann handelt es sich nur um eine pädagogische Vorbeugungsmaßnahme.

Natürlich nährt diese Sanftheit, wo sie allzu perfekt erscheinen will, eine Kultur des Verdachts. Und so geht allenthalben die Klage, der Kapitalismus sei ein Wolf im Schafspelz – freundlich nur aus Eigennutz, in Wahrheit kalt und hinterhältig. Das böse Wort von der Barbarei, gegen das ihn jüngst die viel beachtete Sondernummer des Merkur zu verteidigen suchte, trifft ihn dennoch nicht. Seine Umgangsformen sind viel zu zivilisiert, um wirklich barbarisch zu sein.

Der junge Schwede Johan Norberg, der sich als energischer Fürsprecher des Kapitalismus ins Gespräch gebracht hat („Das kapitalistische Manifest“, Campus 2003), sieht ebenfalls sehr sanft aus. Er hat lange Haare und eine Nickelbrille wie John Lennon. Und wie dessen Song „Imagine“ in der Automobilreklame betätigt er sich als Verkäufer einer geborgten Aura: „Wenn ich den Kapitalismus verteidige, meine ich damit die im Kapitalismus existierende Freiheit, durch Versuch und Irrtum zu lernen, ohne vorher Machthaber und Grenzkontrolleure fragen zu müssen. Das ist im Grunde genau die Freiheit, von der ich glaube, dass die Anarchie sie bringen würde, jedoch unter Gesetzen, die dafür sorgen, dass die Freiheit des einen nicht die des anderen verletzt. Die Freiheit möchte ich haben – im Überfluss für jedermann.“

„Megagroß“, wie Norberg in bohleneskem Neusprech sogar fordert, ist die Verfügungsgewalt im Kapitalismus allerdings schon lange. Für Trial & Error hat er ein ausgesprochenes Faible, Fehler bringen ihn ständig auf neue Ideen. Als Laboratorien für seine munteren Experimente dienen ihm ganze Länder, vormalige Kornkammern, durch die sich dritte, vierte, fünfte Wege fräsen.

Die Freiheit des Einzelnen bleibt dabei gänzlich unangetastet. Sollte die Gemütlichkeit des Ich-will-so-bleiben-wie-ich-bin-Konsumenten einmal durch „Standardabsenkungen“ oder „Leistungskürzungen“ ein jähes Ende finden, ist bestimmt alles andere, nur nicht der Kapitalismus schuld. Im Windschatten der individuellen Täterprofile kann dieser weiter sanft sein wie ein Quartalssäufer, dem man seine Kapriolen nicht wirklich verübeln kann.

Andererseits – er weiß schon, was er tut. Seine Werkzeuge sind die Stoppuhr, das Staffelholz, das Spielgerät. Gerne vergisst er seine gute Erziehung in einem Schweizer Elite-Internat, wenn es darum geht, Erster zu sein und die Verfolger abzuhängen. Dafür ist ihm dann jedes Mittel recht. Oft ist das Endresultat gar nicht so wichtig. Meistens geht es mehr um den Wettbewerb als solchen, das gegenseitige Kräftemessen. Früher war die Systemkonkurrenz härter, heute sucht er verzweifelt nach Gegnern in seiner Gewichtsklasse. Den Sozialismus hat er locker abgehängt, den Humanismus zum Verzweifeln gebracht, mit dem Utopismus liegt er mitunter schon auf gleicher Höhe. Allein der real existierende Liberalismus stellt ihn manchmal noch vor knifflige Fragen: Wäre die Welt besser, wenn alle vom Dopingmittel der Eigenverantwortung kosten würden? Für sich selbst weiß der Kapitalismus bereits die Antwort: Unwägbarkeiten spornen ihn an, Ergebnisoffenheit gibt ihm erst den gewissen Thrill. Aber er ist ja nicht allein. Muss manchmal warten, muss zuhören. Muss Startplätze an andere vergeben, unzählige Kontrollen durchlaufen. Lästig, das. Doch dann ruft ihm jemand „Play!“ zu, er macht sich hektisch ans Drauflosbefreien und verwandelt rasend urbane Wüsten in ein infantiles Fang-mich-Paradies ohne neutrale Ruhezonen. Er hechelt vergnügt, trägt sündhafte teure Turnschuhe und grinst.

Der Kapitalismus ist ziemlich verspielt. Er tobt sich aus auf UMTS-Auktionen, obgleich ihm das Geld zum Mitbieten fehlt. Er liebt Luftbuchungen, theoretische Modelle in einem sozialen Vakuum, ein strategisches Design. Dazu benutzt er unsichtbare Hände und Schleier der Unwissenheit. Er hat ein Faible für Verträge, weil sie eine Grenze setzen, gegen die er anrennen, gegen die er sich behaupten muss. Das Erspähen von Nischen, das Spekulieren auf juristische Schlupfwinkel ist geradezu seine Obsession. Den gezielten Regelverstoß, eine Enron-Schummelei oder eine Microsoft-Finte, begreift er nicht als Sünde, sondern geradezu als Conditio sine qua non. Ohne offenen Spielausgang wird es dem Kapitalismus nämlich schnell zu fade. Was ihn – selbst bei seinen argwöhnischsten Kritikern – gegenüber anderen Charakteren auszeichnet, ist seine scheinbar nie versiegende schöpferische Kraft und kreative Energie. „An den Kapitalismus glauben heißt im Grunde an den Menschen glauben“, heißt es, mit anthropologischer Bestimmtheit, bei Johan Norberg.

Doch wie sieht der kapitalistische Mensch eigentlich aus? Etwa so, wie es uns der Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler nahe legt – wie ein permanent herumschweifendes Nervenbündel, eine Addition von hard body und soft skills, eine bête noire mit zahllosen tollen Projektvorschlägen? Die vielleicht anrührendste von Händlers Spielfiguren im narrativen Assessment-Center „Wenn wir sterben“ (Frankfurter Verlagsanstalt, 2002), der Immobilienmakler Egin, fabuliert von einer Zweiteilung der Menschen in die mit „Depressionsgenen“ und jene mit „Wohlfühlgenen“. Das Theorem ist, nur zum Spiel, nicht uninteressant. Unterliegt die kapitalistische Selbstbehauptung eventuell einer Erbanlage, ist sie gar vorbestimmt? Wäre dies tatsächlich der Fall, könnte man sich den ganzen Hader getrost sparen und ruhig an der biotechnischen Optimierung künftiger Kapitalisten arbeiten, damit Leute wie Hans-Olaf Henkel endlich Ruhe geben.

Doch leider ist es Teil des Spiels, dass der Kapitalismus seine Segnungen ungleich verteilt. Populationen erkennt er, nutzt sie aber bewusst nicht zur Herstellung von Ergebnisgleichheit. Zwar wird er – schon aus Effizienzgesichtspunkten – immer eine Art Folgenabschätzung versuchen und Worst-Case-Szenarien anstellen. Aber vor der individuellen Endabrechnung, dem doppelten Strich unter die sozialen Transaktionen, bewahrt der Kapitalismus nichts und niemanden, schon aus Prinzip. Er begrüßt die Unsicherheit, wie es am Ende eines langen Tages aussehen wird, als Ausdruck seiner Freiheit. Davon kann auch der Hilfsbuchhalter Bernardo Soares aus Fernando Pessoas gerade wiederveröffentlichtem „Buch der Unruhe“ (Rowohlt 2003) ein Lied singen: „Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber; wir schließen Bilanz, und der sichtbare Saldo spricht immer gegen uns.“

Vielleicht müsste man Pessoa schon deshalb einen Antikapitalisten nennen, weil er mit existenzieller Traurigkeit und Rückzug auf diesen Preis der Freiheit reagiert. Denn damit verfehlt er von Grund auf die kapitalistische Mentalität, beim kollektiven pursuit of happiness mitzuhelfen, sei es aus offen egoistischen, sei es aus camouflierten egoistischen Interessen. Immer muss es ein Weiter geben, neuen Schwung für das Hamsterrad. Auch die vielen Globalisierungskritiker und die Globalisierungskritikkritiker benötigen schließlich rage für ihre Diskursmaschine, immer neuen Ekel an der „universellen Lizenz zum Jammern“ und dem „Wohlstandsfatalismus“ (Jörg bzw. Mariam Lau im Merkur).

In diesem Sinne ist der Kapitalismus rastlos. Er bewahrt sich eine ständige Grundnervosität und verbucht gelegentliche Herzattacken nonchalant als lästige Begleiterscheinung. Er prämiert Pioniere, Grenzgänger und Avantgardisten und hasst nichts mehr als jene Wiederholungen, wie sie seine linken Gegner lange schon zur Kunst erhoben haben. Beständig sucht er nach Alternativen, zeigt sich äußerst beweglich und volatil – flüssig ist sein liebster Aggregatzustand. Schon deshalb fällt es so schwer, ihn dingfest zu machen.

Der Kapitalismus steht tendenziell immer vor dem Burn-out, er jongliert mit Daten und prahlt mit vorzeigbaren Ergebnissen. Immer gibt es von allem zu viel. Die Gefahr, urplötzlich an Überlastung zu sterben, weist er jedoch weit von sich. Die Gefahr, mit seinem ständigen Optimierungsdrang auch seiner eigenen Demission zuzuarbeiten, ebenso. Er hat sich neulich die Haare gefärbt, sich endlich seinen rheinischen Akzent abgewöhnt und eine private Zahnersatzversicherung abgeschlossen. Er ist einsam und steht kurz vor dem Aus. Dass ihn das sonderlich kratzen wird, ist indes nicht zu befürchten.