RUSSLAND: REFORM-BEFÜRWORTER WILL DEN KREML VERLASSEN
: Putin verliert die Balance

Der angekündigte Rücktritt von Alexander Woloschin lässt sich in ein simples Schema einordnen: Die Politik hat über die Wirtschaft gesiegt. Der Kreml-Stabsschef war der mächtigste Förderer des verhafteten reichsten russischen Industriellen Michail Chodorkowski. Wenn Woroschin wirklich geht, haben – zugespitzt formuliert – innerhalb der Präsidialbehörde die „Autoritären“ über die „Liberalen“ gesiegt, die Putin-Leute über die Jelzin-Vertrauten, die „Petersburger“ über die „Moskauer“. In der Gesellschaft bedeutete schon die Verhaftung des Öloligarchen einen Triumph der Regulierung über die Entfesselung und der Armut über den Exzess, zugleich auch des Geheimdienstes über die Meinungsfreiheit, der Staatssicherheit über die offene Gesellschaft – im Hinblick auf Investitionen und Kapitalmärkte sogar des „Inlands“ über das „Ausland“.

Im Kreml bricht mit Woloschins mutmaßlichem Abgang aber auch die komplizierte Balance aus ebendiesen beiden Fraktionen zusammen. Putin, selbst de facto Chef der Geheimdienstler, spielt die beiden Gruppen nun nicht mehr gegeneinander aus, sondern hat nach dem Parlament, den Regionalfürsten und den Medien auch den Regierungsapparat „homogenisiert“. Die Konkurrenz von Ideen und Konzepten war auch bisher schon mit Machtfragen verknüpft, allerdings in und zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen. Wo aber eine Fraktion so eindeutig siegt, verlagern sich alle Auseinandersetzungen in deren Apparat hinein.

Damit knüpft Putin an ein furchtbares Charakteristikum der sowjetischen Geschichte an. Denn Putin verliert gegenüber seinem Apparat enorm an politischem Spielraum, weil er und seine Parteigänger auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen sein werden. Damit kommen noch schlechtere Zeiten auf alle zu, die die Allgegenwärtigkeit der Staatsmacht nicht wollen: die politischen Reformer, die letzten freien Medien, die Menschenrechtler und auch die Geschäftsleute, unter denen sich auch die unbeliebten Multimilliardäre befinden. DIETMAR BARTZ