Die Mechanik von Gewalt und Liebe

Auch Puppen können lakonisch sein: Takeshi Kitano erweitert sein multikulturelles Gangsterpersonal um einen neuen Aspekt – „Dolls“, der neue Film des Regisseurs, speist sich aus der Ästhetik des traditionellen japanischen Bunraku-Puppentheaters

Die Kinnlade klappert, die Augen rollen,die Brauenwippen auf und ab

von CRISTINA NORD

„Früher habe ich geglaubt, mit Gewalt alles zu erreichen“, sagt Hiro, ein in die Jahre gekommener Yakuza (Tatsuya Mihashi), zu einem seiner Bodyguards. Der Film Takeshi Kitanos „Dolls“, ist zu diesem Zeitpunkt schon fortgeschritten, und der Yakuza ahnt, dass die Gewalt bald ihn erreichen wird. In seinem Satz verbirgt sich nicht nur kritische Introspektive, sondern auch ein Selbstbekenntnis des Regisseurs. Ob in seinen frühen Arbeiten „Violent Cop“ oder „Boiling Point“, in „Sonatine“ oder später in „Brother“: Takeshi Kitano hat die Erscheinungsformen der Gewalt erkundet. Er hat Schießereien, Messerstechereien und Schlägereien vom narrativen Zierrat und von den Beschleunigungsformeln des Actionkinos befreit und dabei immer wieder das Eruptive mit dem Statischen kontrastiert: mit einer starren Kamera, mit versteinerten Gesichtern, mit unbeweglichen Körpern. Und manchmal auch mit Augenblicken von Muße und Spiel, etwa dann, wenn sich die Yakuzas in „Sonatine“ ans Meer zurückziehen und sich die Zeit mit Strandspielereien vertreiben. Je ungerührter sie später ihren Gegnern gegenübertreten, umso weniger Zweifel kann es an der Unentrinnbarkeit ihrer Situation geben. Wer vom Vorherbestimmten nicht abweichen kann, muss erst gar nicht in Deckung gehen, wenn die Kugeln durch die Luft schnellen.

„Dolls“, der zweitjüngste Film Kitanos (der jüngste, der Schwertkampffilm „Zatoichi“, findet hoffentlich bald in hiesige Kinos), beschreitet vergleichbare und doch ganz andere Wege. Vergleichbar, insofern sowohl das Spielerische als auch das Unentrinnbare im Film bedeutende Faktoren bilden, ganz andere, insofern Kitano die sichtbare Gewalt auf ein Minimum reduziert. Zwar fallen auch in „Dolls“ Schüsse und dringen scharfe Gegenstände in Körper ein, doch der Film muss dies nicht zeigen, weil er dem Stilmittel der Ellipse vertraut. Die sekundenkurze Einblendung eines auf dem Boden liegenden Messers genügt, um zu veranschaulichen, wie die Figur Nukuis (Ktsutomu Takeshige) ihr Augenlicht verliert. Dieser Hang zur Aussparung ist erfreulich, insofern Kitano mit „Brother“ an einem toten Punkt angelangt war. Die Mischung aus eruptiver Gewalt und Lakonie drohte dort im Selbstzitat zu erstarren. Daran änderte nichts, dass der Film über weite Strecken nicht in Japan, sondern in Los Angeles spielte und dementsprechend ein multikulturelles Gangsterpersonal anheuerte. Angeführt wurde es von dem Yakuza Yamamoto (Takeshi Kitano). Er machte die Spiele und gewann sie, und es blieb ein befremdlicher Eindruck: Schlägt im Homo ludens ein sadistisches Herz?

„Dolls“ zieht dem Spielerischen die sadistische Wurzel. Hier kommt es zu seinem vollen Recht – etwa dann, wenn ein rosa Plastikball in die Luft fliegt, angetrieben davon, dass eine der sechs zentralen Figuren, Sawako (Miho Kanno), in eine Art Pfeife bläst. Im Auf und Ab des kleinen Balles nimmt sich „Dolls“ die Muße und die Freiheit, auf der die schönsten Augenblicke von „Sonatine“, „Hana-Bi“ oder „Kikujiro“ beruhten. Nachts zum Beispiel kann dieser Ball so hoch springen, dass er dem Vollmond begegnet, und wenn er später zerquetscht auf dem Straßenpflaster liegt, braucht es keine weiteren Bilder und schon gar keine Dialogzeilen, um zu wissen, dass für Sawako etwas Wesentliches unwiederbringlich zerstört ist. Hinzu kommt, dass sich Kitano als Darsteller aus „Dolls“ heraushält. „Wenn ich müde bin“, heißt es dazu im Presseheft, „spiele ich nicht in meinen Filmen.“ „Dolls“ tut dies gut, war es in „Brother“ doch gerade das versteinerte Geischt des Hauptdarstellers, das als Wiederholung seiner selbst störte.

Der neue Film speist sich aus der Ästhetik des Bunraku-Puppentheaters, einer traditionellen japanischen Theaterform. Ihren Höhepunkt erlebte sie im 17. Jahrhundert, vor einigen Jahrzehnten wurde sie in Tokio wiederbelebt, und auch im Film wurde sie schon lange vor „Dolls“ bearbeitet: etwa in Shinoda Masahiros „Shinju ten no Amijima“ („Doppelselbstmord in Amijima“, 1969). Wie „Dolls“ folgt dieser Film einem Stück des Bunraku-Dramatikers Chikamatsu Monzaemon (1653–1724). Und hier wie dort geht es um das Verhängnis einer Liebe, die nicht sein darf. Während Shinoda Masahiro bei der unglücklichen Geschichte einer Dreiecksbeziehung bleibt, begleitet „Dolls“ drei Paare: Hiro und seine Jugendliebe (Chieko Matsubara), die er verließ, weil er Yakuza wurde; Nukui und die Popsängerin Haruna (Kyoko Fukada), die sich nach einem Autounfall von der Welt zurückzieht; und schließlich Sawako und ihren Freund Matsumoto (Hidetoshi Nihijima). Nachdem dieser sie einer Vernunftehe mit der Tochter seines Vorgesetzten wegen verlassen hat, begeht sie einen Selbstmordversuch. Matsumoto kehrt zurück zu ihr, doch ist sie in der Zwischenzeit einem stillen Wahnsinn verfallen.

Im Bunraku-Theater werden solche Plots von etwa einem Meter großen Puppen bestritten, die wiederum von zwei oder drei schwarz gekleideten, teils maskierten Puppenspielern, so genannten Kurogo, geführt werden. Die Spieler sind dem Blick des Publikums nicht verborgen, im Gegenteil, sie agieren auf der Bühne, und für Augenblicke entsteht dabei die Illusion, dass nicht sie die Puppen bewegen, sondern umgekehrt die Puppen sie. In den Filmen übernehmen zwar menschliche Darsteller den Part der Puppen, dennoch bleiben diese, wenn nicht immer sichtbar, so doch anwesend. Am Anfang von „Doppelselbstmord in Amijima“ etwa sieht man einen Puppenkopf vor schwarzem Hintergrund, noch ohne Kostüm und damit ohne Leib. Die Mechanik wird vorgeführt: Die Kinnlade klappert, die Augen rollen, die Brauen wippen auf und ab. Nicht jeder Puppe stehen so viele Möglichkeiten des Ausdrucks zur Verfügung, andere Gesichter sind aus einem Stück gefertigt, und wenn ihre Miene starr bleibt, während sich die Gliedmaßen bewegen, nimmt dies jene Spannung vorweg, wie sie dem Kontrast von ungerührtem Yakuza-Gesicht und jäher Gewalthandlung zu Eigen ist.

Zeigt „Doppelselbstmord in Amijima“ zunächst das Making-of, sind die Puppen bei Kitano schon fertig montiert. Die Kamera schaut sie sich an: eine männliche und eine weibliche Figur in kunstvollen Kimonos, ebenfalls vor schwarzem Hintergrund. Dann dreht sie sich in einer langsamen Bewegung, bis die Puppenspieler zu sehen sind. Die Aufführungsauschnitte, die nun folgen und im weiteren Verlauf des Filmes Zäsuren setzen, werden vom Vortrag eines Erzählers flankiert, der am Rand der Bühne sitzt, und von einem Musiker, der eine dreisaitige Laute spielt.

Bei Shinoda Masahiro bleiben die Kurogo nicht durchgängig präsent, doch als schwarze Gestalten tauchen sie immer wieder auf, wie Geister im Hintergrund. Manchmal greifen sie sogar ins Geschehen ein: zum Beispiel wenn Jihei (Nakamura Kichiemon) seine Geliebte, eine Prostituierte, besucht, und dabei auf einen Rivalen trifft. Als es zum Kampf kommt, nimmt sich ein Puppenspieler der Arme Jiheis an. Wer bewegt wen? Wer bestimmt, in welchem Rahmen Jihei zu bleiben hat? Was kann er selbst entscheiden, was ist längst entschieden? Am Ende der Szene ist Jihei an einen Holzstab gefesselt. Seine Geliebte Koharu (Iwashita Shima) ist ohnehin jedes Freiraums beraubt, müsste sie doch, um ein Leben jenseits des Bordells zu führen, losgekauft werden.

Man beginnt zu ahnen, warum sich das Sujet der unglücklichen, da gesellschaftlich nicht akzeptierten Liebe so gut mit der Ästhetik des Bunraku-Theaters verträgt. Die Frage, wie die Puppen von den Puppenspielern abhängen, lässt sich umstandslos erweitern zu der Frage, wie die Figuren von den Verhältnissen abhängen. Und natürlich führt dies zu einer dritten Frage: Wie viel Spielraum lässt die Bunraku-Tradition den Regisseuren, die sie für den Film adaptieren?

Für „Dolls“ sind der Rückgriff auf die Tradition und die damit verbundene Reduktion ein Glücksfall: Sie erweitern und bereichern Kitanos bisheriges Oeuvre. Außer in den Aufführungsausschnitten verzichtet er auf die Präsenz von Puppenspielern. Was bei ihm von der Bühnensituation bleibt, sind vor allem die prächtigen Kostüme, für die der Modeschöpfer Yamamoto verantwortlich zeichnet. Je weiter der Film voranschreitet, umso ähnlicher werden sie den Kimonos der Puppen, bis sie schließlich deckunsgleich sind. In diesem Augenblick sind die Figuren bereit, das Schicksal der Puppen zu vollziehen. Des weiteren gibt es ein rotes Band, das Sawako und Matsumoto verbindet. Auch hier stellt sich die Frage nach Freiraum und Gebundensein – besonders klar in einer Szene, in der Sawako, obwohl sie am Wagen festgebunden ist, wegzugehen versucht. Sechs-, siebenmal tritt sie nach vorne, wird vom Band aufgehalten und ein Stück zurückgezogen. Hier wie auch in anderen Momenten liegt Kitano viel daran, das Starre der Puppengesichter in der Ausdruckslosigkeit seiner Darsteller zu wiederholen.

Das alles ist großartig fotografiert und montiert, berückend in der Anordnung der Farben und in der traumwandlerischen Sicherheit, mit der Kitano seine Bilder auf Wesentliches reduziert, ohne dabei symbolisch zu werden. Dennoch ist „Doppelselbstmord in Amijima“ vermutlich der ästhetisch radikalere und modernere Film – was zunächst einmal damit zu tun hat, dass 1969 die meisten Filme moderner und radikaler waren als die, die heute gedreht werden. Der Unterschied liegt außerdem darin, dass Shinoda Masahiro seinen Figuren fast widerstrebend das ihnen zugedachte tragische Ende angedeihen lässt. Bei Kitano hingegen hat man in keiner Szene den Eindruck, dass etwas anderes als das Vorhergesehne geschehen könnte. So wie die Jahreszeiten wechseln, so nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Dass der Winter kommt, ist gewiss.

„Dolls“, Regie: Takeshi Kitano. Mit Miho Kanno, Hidetoshi Nishijima u. a., Japan 2002, 113 Min.