„Israel wird immer gröber“, sagt Frau Gur

Seit mehr als dreißig Jahren ist Palästina besetzt – das Besatzungsregime zerfrisst auch die israelische Gesellschaft.Ein Gespräch mit der bekanntesten israelischen Krimiautorin über die fortschreitende Krise ihres Landes

taz: Frau Gur, Sie sind vor ein paar Wochen verhaftet worden. Was ist passiert?

Batya Gur: Ich habe drei Soldatinnen gesehen, die sich ungehörig gegenüber einem alten Palästinenser verhielten. Der Mann stand mit dem Gesicht zur Wand, während die Soldatinnen sich unterhielten und lachten. Eine führte über Handy ein privates Gespräch. Ich konnte nicht einfach vorbeigehen, deshalb habe ich die Soldatinnen gebeten, mir ihre Personalien zu geben. Ich wollte nicht so sein wie die Frau, die in Nazideutschland in die andere Richtung guckt.

Und dann?

Die Soldatinnen wussten nicht, wer ich bin – und ich wusste gewissermaßen auch nicht, wer ich bin. Ich habe an keine politische Ideologie gedacht und sicher nicht an Veröffentlichung. In der Polizeistation hat mich jemand erkannt, und als ich wieder nach Hause kam, lief die Geschichte schon im Internet. Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum. Ich habe als Bürgerin gehandelt, und es war nur eine kleine Sache. Aber offenbar doch ein Vorfall, der die Situation im Land widerspiegelt.

Inwiefern?

Die israelische Gesellschaft wird zunehmend gröber. Man merkt einfach, dass sie eine Gesellschaft von Besatzern ist. Wenn man Besatzer ist, hat man keine Zeit für Nuancen. Ich sage das schon seit dreißig Jahren – leider ohne viel Erfolg. Meine größte Angst ist, dass der Besatzer seine Menschlichkeit verliert. Mich hat das Schicksal der Palästinenser lange Jahre überhaupt nicht beschäftigt. Im Zentrum stand für mich die Frage, was die Besatzung mit uns macht.

Wenn die Besatzung so verheerende Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft hat, warum dauert sie bis heute an?

Weil die Israelis Angst haben, mit ihren eigenen, sehr gravierenden Problemen konfrontiert zu werden. Die Besatzung lenkt uns von dem Konflikt zwischen Aschkenasim (den Juden aus Europa und Osteuropa) und Sephardim (Juden aus Nordafrika) ab, von dem Konflikt zwischen den Frommen und Weltlichen, den Linken und den Rechten, von dem Problem der Gesellschaft, die ihre Wurzeln, ihre Sprache verliert und kulturell immer mehr zu einer US-amerikanischen Kolonie wird.

Der Held Ihres Romans, der Detektiv, ist Marokkaner. Aber er agiert in aschkenasischer Umgebung, im Kibbutz, der Akademie, dem psychoanalytischen Institut. Ist er eine Art Symbol des Fremden?

Er ist ein Kontrapunkt zu den Leuten im psychoanalytischen Institut, die alle Jekkes (deutschstämmige Juden) waren. Wenn Sie so wollen, könnte man ihn als Symbol des Fremden bezeichnen. Ich selbst empfinde hier eine Fremdheit, obwohl Hebräisch meine Sprache ist.

Warum?

Ich kann es nicht richtig erklären. Meine Eltern waren Flüchtlinge. Das hat bei mir vielleicht bewirkt, mich mit Flüchtlingen zu identifizieren. Außerdem sind Leute, die ihr Leben neu beginnen und es schwer haben, viel interessanter als Leute, die etabliert sind und keine Probleme haben. Außenseiter, die nicht zurechtkommen, sind auch literarisch interessanter.

Warum schreiben Sie eigentlich Krimis?

Weil man in diesem Genre die Frage von Gut und Böse behandeln kann. Und der Detektiv ist eine Variation der Funktion des Propheten. Er ist verantwortlich für die Moral und bringt die Ordnung zurück in die Welt.

Haben Sie den Eindruck, dass in Israel das Bedürfnis nach Ordnung wächst?

Es sieht so aus. Es gibt seit mehr als dreißig Jahren die Besatzung, und die Regierungen jonglieren mit Begriffen wie Frieden und Sicherheit. Die Scharon-Regierung ist für mich einfach nur abscheulich, das Gleiche gilt auch für die Knesset.

Aber offenbar glaubt die große Mehrheit der Israelis, dass diese Regierung Ordnung bringen kann.

Das beweist die Dummheit und Blindheit der Öffentlichkeit, die nicht nachdenkt, vielleicht deutet es auch auf einen Mangel an Alternativen. Für mich besagt das gar nichts. Wir kennen aus der Geschichte unendlich viele Beispiele törichter, gefährlicher Leute, die auf demokratische Weise an die Macht gekommen sind. Denken Sie an jemanden wie Berlusconi.

Haben Sie jemals daran gedacht, auszuwandern?

Nein, nein, niemals.

Sie wohnen in Jerusalem in der Emek-Refaim-Straße. Wie viele Attentate gab es dort in letzter Zeit? Zwei, drei?

Na und? Ich habe keine Angst, nicht um mich jedenfalls. Es ist nicht so, dass ich glaube, dass mir nichts passieren kann. Aber ich kann nur hier leben. Dies hier ist mein Zuhause.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL