Der Nebel des Krieges

B-Filme und Experimente statt Stars und Weltpremieren: Auf dem Wiener Filmfest Viennale wurde das Zerrbild von der hegemonialen US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie zurechtgerückt

De Antonio montierte nicht um der Emotion, sondern um des Denkprozesses willen

von CRISTINA NORD

Panzer rollen über den Stubenring. Es sind ältere Modelle in verschiedenen Größen, die Antriebsketten greifen hart in den Asphalt. Aus den Einstiegsluken schauen Soldaten heraus, als hätten sie gerade eine Stadt eingenommen. Eine Halluzination muss das sein. An diesem Oktobermorgen in Wien ist das Licht so klar, der Himmel so blau und der bei einem plötzlichen Wintereinbruch niedergegangene Schnee so weiß, dass es gar nicht der Parallelwelt eines Filmfestivals bedarf, damit die Umgebung unwirklich erscheint.

Aber es ist keine Halluzination. Die Panzer fahren durch die Stadt, um sich am Heldenplatz zu sammeln. Denn der Nationalfeiertag steht bevor, und mit ihm die Paraden des Heeres. Genauso gut könnten sie aus dem Kino kommen: aus Warren Beattys Revolutionsepos „Reds“ zum Beispiel oder aus Dokumentarfilmen wie Errol Morris’ „The Fog of War“ und Emile de Antonios „In the year of the pig“.

Die Viennale, für Freunde des Kinos ein zwei Wochen währender Freudentaumel, ist eben zu Ende gegangen. Weil sich das Team rund um den Festivalleiter Hans Hurch kaum um Stars und Weltpremieren kümmert, rückt das Wesentliche in den Vordergrund: der Film als Kunstform. In Wien öffnet man sich für die Filmgeschichte, für Experimente, Raritäten, B-, C- und D-Pictures und für ein Weltkino, das wenig mit guten politischen Absichten und viel mit cineastischer Neugier zu tun hat.

In diesem Jahr bildeten die Erneuerungsbewegungen der Sechziger- und Siebzigerjahre einen Programmschwerpunkt. Die Retrospektive etwa galt der japanischen Art Theatre Guild, einem 1961 gegründeten, bald zum Kinobetreiber und zur Produktionsfirma erweiterten unabhängigen Verleih, dessen Filmproduktion sich als Fortsetzung der Nouvelle Vague mit japanischen Mitteln begreifen lässt. Parallel dazu lieferte die Hommage an Warren Beatty einen Eindruck von dem Geist, der New Hollywood durchwehte.

Insgesamt enthielt das Programm viele unabhängige oder am Rand der großen Studios entstandene US-Produktionen, darunter nicht eben wenige, die sich dem Sujet Krieg widmeten. In Deutschland finden solche Filme immer seltener einen Verleih. Von Gus van Sant zum Beispiel erreichte uns der eingängige „Good Will Hunting“, der in Wien gezeigte, antinarrative „Gerry“ bleibt uns offenkundig verwehrt. Das ist umso bedauerlicher, als sich doch genau solche Filme gut dazu eignen, das Zerrbild einer hegemonialen US-amerikanischen Unterhaltungsindustrie geradezurücken.

Dazu trug in Wien auch die Hommage an den Dokumentaristen Emile de Antonio bei. De Antonio kam 1919 als Sohn eines litauisch-italienischen Einwandererpaares zur Welt. In den Dreißigerjahren studierte er in Harvard, wurde aber wegen ungebührlichen Benehmens der Universität verwiesen. Er schloss sich der Kommunistischen Partei an, bewegte sich in New Yorker Künstlerzirkeln und wusste bis zu seinem Tod im Jahre 1989 das gute Leben zu schätzen – in Andy Warhols Film „Drunk“ leert er binnen kürzester Zeit eine Flasche Whiskey.

Vor allem aber war Emile de Antonio ein Chronist des Kalten Krieges. In „Point of Order“ (1963) verfolgte er den Sturz des Kommunistenjägers Joseph McCarthy, in „Rush to Judgement“ (1966) zog er den Bericht der Warren Commission zum Mord an John F. Kennedy in Zweifel, „In the Year of the Pig“ (1968) warf er einen zutiefst skeptischen Blick auf den Krieg in Vietnam. Der Film wollte unter anderem ermitteln, was die Vietcong dazu veranlasste, so erbitterten Widerstand gegen die US-Invasion zu leisten. Für US-amerikanische Politiker mag Ho Chi Minh ein Wiedergänger Hitlers gewesen sein, für de Antonio war er ein Unabhängigkeitskämpfer, dessen Kampf für nationale Souveränität gleichberechtigt neben dem der Amerikaner gegen die Engländer zu stehen habe.

Der Filmemacher entwickelte eine komplexe Montagetechnik. Von ihm geführte Interviews, zum Teil aus Hanoi stammende Archivaufnahmen und TV-Material wurden collagiert, Ton und Bild sind oft dissoziiert. Ein einordnender Off-Kommentar fehlt, oft unterlegen die Statements von Journalisten oder an Universitäten tätigen Vietnam-Experten die Bilder. Hinzu kommen Soundscapes wie etwa in der Eingangssequenz: das Geräusch von Hubschrauberrotoren wird hier auf unnachahmliche Weise verdichtet. „In the Year of the Pig“ pflegt einen dokumentarischen Stil, der die Manipulation des Materials verlangt, ohne dabei spekulativ zu werden. Darin liegt der große Unterschied zu einem Filmemacher wie Michael Moore: Bei Moore führen Collagetechnik und Materialmanipulation zu schnellen Schlüssen. De Antonio hingegen montierte nicht um der raschen Emotion, sondern um des Denkprozesses willen.

Von „In the Year of the Pig“ führt eine direkte Verbindung zu Errol Morris’ „The Fog of War“ (2003). Morris – auch er kein Anhänger des dokumentarischen Purismus – hat Interviews mit Robert McNamara geführt, dem ehemaligen US-amerikanischen Verteidigungsminister, der zunächst unter John F.Kennedy und nach dessen Ermordung dann unter Lyndon B. Johnson maßgeblichen Anteil an der Eskalation des Vietnamkriegs hatte. Leider unterlegt Morris seine Collage mit der suggestiven Musik von Philip Glass und er verzichtet auch nicht darauf, das historische Bildmaterial mit fernsehtypischen Mitteln wie zum Beispiel der Zeitlupe zu bearbeiten.

Doch was er aus McNamara herausholt, ist frappierend: kein Schuldeingeständnis, wohl aber eine selbstkritische Befragung, die die Legitimität der Kriegshandlungen in Zweifel zieht. Manchmal spielt Morris Tonbandaufzeichnungen von Telefonaten zwischen McNamara und Johnson ein. In diesen knappen Dialogen tritt eine große Ahnungslosigkeit zutage. Begriffen der Präsident und sein Minister, was sich in Vietnam abspielte, wer ihr Gegner war und was ihn antrieb? Offenkundig nicht. „The Fog of War“ stellt keine einzige Frage zur aktuellen US-Invasionspolitik. Dass es eine erschreckende Parallele gibt, nämlich die Unkenntnis des Gegners, wird dennoch überdeutlich.