„Moral muss man sich leisten können“

Zwischen Kaffeehaus und Kirche – auf den Spuren von Wiens berühmtester Hure, Josefine Mutzenbacher. Ein Ausflug in die Sittengeschichte Wiens

Freudenmädchen waren auch am Gebetbuch in der Hand zu erkennen

von RALF LEONHARD

Sie hat wirklich gelebt, die Josefine Mutzenbacher, Wiens berühmteste Hure, und sie ist noch heute lebendig in den Straßen der Wiener Innenstadt, obwohl die Strichszene mit Rücksicht auf Geschäftsleute, Kinder und Touristen vor 30 Jahren aus dem 1. Bezirk verbannt wurde: an den Gürtel, jene Durchgangsstraße, die die einstelligen von den zweistelligen Bezirken trennt. Dort locken Peep-Shows, S/M-Clubs, zwielichtige Bars und Damen.

In der Innenstadt, wo teure Edelboutiquen, gotische Kirchen und prächtig restaurierte Barockfassaden die Aufmerksamkeit des Besuchers fesseln, können nur Eingeweihte das Echo der Schritte gründerzeitlicher Freudenmädchen vernehmen oder im Buckelpflaster die Spuren der Fiaker sehen, die mit der Kundschaft, die sich kein Hotel leisten konnte, endlose Runden um die Kirche am Hof drehten. Das ist lange her, dass Fiakerfahren billiger kam als ein Stundenhotel. Der Kutscher wusste: Wenn ein Paar eine „Porzellanfuhre“ bestellte, gab es kein Ziel. Wichtig war nur, dass er möglichst vorsichtig fuhr. Ein durchaus alltäglicher Auftrag 1852, als Josefine Mutzenbacher im Wiener Vorort Hernals, dem heutigen 17. Bezirk, geboren wurde.

„Moral muss man sich leisten können“, soll sie gesagt haben, als sie das Elend hinter sich gelassen hatte und zur honorigen Rentnerin im österreichischen Kärnten geworden war. „Ich habe mir eine schöne Bildung erworben, die ich einzig und allein der Hurerei zu verdanken habe“, heißt es im Vorwort ihrer Lebensgeschichte.

Und sie wusste, wovon sie sprach. In der engen Wohnung, die sie außer mit Eltern und neun Geschwistern auch noch mit Untermietern und Bettgehern teilen musste, war so etwas wie Intimsphäre unbekannt. Kinder wurden in zartestem Alter an die Paarungsgeräusche ihrer Erzeuger gewöhnt, die Mädchen machten ihre ersten sexuellen Erfahrungen gewöhnlich mit dem Vater oder einem älteren Bruder. Dass sie von Untermietern, Bettgehern und Nachbarn belästigt wurden, wie im Buch ausführlich beschrieben, war Alltag. Auf die schiefe Bahn zu kommen war also weniger die Ausnahme als die Regel.

Der Aufstieg von der Vorstadt in die Stadt war dann eine Frage des Kapitals. Denn Bordelle sind in Wien seit 500 Jahren verboten. Straßenmädchen durften als solche nicht zu erkennen sein und mussten sich daher gediegen kleiden. So bildeten sich Arbeitsgemeinschaften: Fünf oder sechs Mädchen legten zusammen, um eine Kollegin wie eine Dame von Stand auszustatten. Gewöhnlich die hübscheste. Sie zog dann die Kundschaft an Land, die anderen warteten in der gemeinsamen Absteige. Es waren oft Teenager von zarten 13 Jahren oder gar jüngere. Beliebteste Treffpunkte zum Anbandeln waren die Kirchen und deren Umgebung. Denn die sittenstrenge Maria Theresia (1740–1780) hatte einst verfügt, dass Damen, die allein unterwegs waren, von der Keuschheitskommission bis zu 48 Stunden angehalten und überprüft werden konnten. Ausnahme war der Kirchgang: Freudenmädchen waren also nicht zuletzt daran zu erkennen, dass sie stets ein Gebetbuch in der Hand trugen.

Der Spaziergang durch das Wien der Josefine Mutzenbacher beginnt denn auch vor der Michaelerkirche. Berühmt wurde die Mutzenbacher durch das Buch eines anonymen Autors, dessen Identität nie wirklich ein Geheimnis war: Sigmund Salzmann, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Felix Salten, der durch seinen Kinderbuchbestseller „Bambi“ weltberühmt, durch die Mutzenbacher aber wohlhabend wurde. Die beiden Romangestalten, so die Führerin, haben einiges gemeinsam: „Beide kämpften im Dickicht ums Überleben.“

Das Dickicht der Großstadt bot zahlreiche Lichtungen, auf denen man sich sehen lassen durfte: das Kaffeehaus oder eben die Kirche. In der Michaelerkirche, die dem Burgtor gegenüber liegt, wurde während der Messe durch Blickkontakt angebandelt. Nach dem Segen traf man sich vor dem Tor.

Noch im Mittelalter wurde die Prostitution in Wien als durchaus honoriges Gewerbe betrachtet. Die „Hübschlerinnen“, oder „freien Töchter“, wie sie genannt wurden, brachten Schwung in aufwändige Feste. Sie wurden gerne zu Hochzeiten eingeladen, nicht zuletzt weil sie der Braut wertvolle Tipps in die Hochzeitsnacht mitgeben konnten, und bei Turnieren wurde eine Liebesnacht als Siegespreis ausgesetzt. In der heutigen Naglergasse, einem besonders engen Gässchen, das den Hof mit dem Graben verbindet, zeigten die Fensterhuren ihre Reize in den Auslagen, ähnlich wie in der Hamburger Herbertstraße. Bänder in verschiedenen Farben verrieten die angebotenen Spezialitäten. Prostituierte mussten damals zwar ein gelbes Abzeichen tragen wie die Juden, doch konnten sie durch Buße ehrbar werden. Sie waren dann durchaus begehrte Ehefrauen, denn sie brachten nicht nur Erfahrung, sondern häufig auch viel Erspartes in die Verbindung mit.

Auch das Café Griensteidl am Michaelerplatz diente der Anbahnung. Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal waren im Griensteidl Stammgäste, aber auch Peter Altenberg, dessen pädophile Vorliebe für Nacktfotos von zehnjährigen Mädchen stadtbekannt war. Besonders beliebt waren zu Zeiten Mutzenbachers die kindlich und grazil wirkenden Ballettmädchen. Das ist der Grund, warum in der Vorstadt eine Unzahl von Kleinbühnen mit Ballett aus dem Boden schoss. Auch die Mutzenbacher gab sich einmal als Tänzerin aus.

Die Aristokratie suchte für die Schäferstündchen die diskreten Separées des Restaurants Sacher auf. Dort zog sich ein Abendessen über einen Nachmittag und eine halbe Nacht hin, es gab Gerichte, denen ähnliche Wirkungen zugeschrieben wurden wie heute der Viagra-Pille. Der auch in erotischen Dingen äußerst konservative Kaiser Franz Joseph (1848–1916) missbilligte die Eskapaden seiner Brüder, Neffen und natürlich seines Sohnes Kronprinz Rudolf und suchte das Sacher niemals auf.

Nicht alle Habsburger zeigten sich so prüde wie Franz Joseph. Jahrhundertelang war es üblich, dass die Söhne der Kaiserfamilie ab dem 15. Geburtstag eine hygienische Mätresse beigestellt bekamen. Die Kinder aus diesen Verbindungen wurden dann am Hof aufgezogen. Sie kamen zwar für die Thronfolge nicht in Frage, wurden aber nicht versteckt und konnten durchaus Karriere machen. So etwa Don Juan de Austria, der illegitime Sohn Kaiser Karls V. und Stiefbruder Philipps II. von Spanien. Er erfreute sich großer Popularität bei den Frauen und in der Bevölkerung.

„Auf den Wegen der Lust im alten Wien“ kommt der Besucher vorbei an Straßen und Gebäude, die sich wenig verändert haben in den letzten Jahrhunderten. Für Voyeure ist er nichts, der Spaziergang auf den Spuren der Mutzenbacher. Er gibt keine pikanten Einblicke und macht auch nicht unbedingt Lust auf einen Besuch in einem der rot beleuchteten Klubs, wo die Nachfahrinnen der Mutzenbacher auf ein Glas Schampus eingeladen werden wollen. Aber die unterhaltsame Exkursion in die Sittengeschichte geht fast jeden etwas an: Schließlich nimmt laut Umfragen jeder zweite männliche Wiener zumindest einmal im Leben die Dienste einer Prostituierten in Anspruch.