Georgien? Alles Bluff!

Der Direktor der Nationalbibliothek, Exhäftling und Fernsehmoderator Lewan Berdsenischwili, will die georgische Mentalität abspecken. Betrachtungen eines Landes vor der morgigen Parlamentswahl

von BARBARA KERNECK

Jeden Morgen, ganz früh um acht, steigt Lewan Berdsenischwili, der fünfzigjährige Generaldirektor der Parlamentarischen Nationalbibliothek, ins Auto und fährt zum Schwimmbad. In Paris oder London sind die Straßen um diese Zeit verstopft. Doch in Tbilissi hat Berdsenischwili freie Fahrt. „In Georgien schläft man gern ein bisschen länger.“

Berdsenischwili ist schlank – seit neuestem. Mit einer Diät hat der ehemaligen Fernsehmoderator innerhalb eines Jahres neunzig Kilo abgenommen. Wenn Berdsenischwili heute mal das ein oder andere Verkehrszeichen übersieht und dabei ertappt wird, brauchen die Verkehrspolizisten meist ein bisschen, bis sie ihn erkennen. Aber dann fragen sie sofort neugierig: „Ach Sie sind’s, wie geht es Ihnen denn jetzt so?“ – „Das ist mir derart peinlich“, klagt Berdsenischwili, „dass ich mir große Mühe gebe, keine einzige Verkehrsregel mehr zu verletzen. Alle glauben nun, mich irgendwie bewerten zu müssen. Entweder mäkeln sie: Früher gefielst du mir besser. Oder sie loben: Prachtkerl, dass du das geschafft hast! Mit anderen Worten: Ich kann mich nicht mehr frei bewegen.“

Der Generaldirektor beugt sich in dem geschnitzten Chorgestühl vor, das ihm in seinem riesigen neugotischen Bürosaal als Konferenzsessel dient. Seine blassen Wangen hängen noch ihrer einstigen Polsterung nach. Die Augen wölben sich ein wenig zu stark, doch sie funkeln vor Angriffslust: „Das ist hier eben eine sehr provinzielle Gesellschaft.“ Man hatte mir Berdsenischwili als Tabubrecher empfohlen, der mit der georgischen Tradition der Selbstbeweihräucherung Schluss macht und die heiligsten Kühe seiner Landsleute schlachtet – nur zum Besten seines Volkes, wie er glaubt.

Seine zahlreichen Feinde sehen das anders. So schrieb die Zeitung Shvidi Dge anlässlich eines Arbeitsplatzwechsels: „Auch auf seinem neuen Posten wird Berdsenischwili fortfahren, Georgiens nationale Würde zu besudeln, den Dichter Ilia Tchawchawadse zu diffamieren und die ökumenische Bewegung zu propagieren.“ Der Poet des 19. Jahrhunderts gilt als Vater der Nation. „Dabei interessiert sich hier eigentlich niemand für diese Gedichte“, kichert der Philologe, der für seine Kritik am Werk Tchawchawadses Morddrohungen erhielt. „Aber er gehört zum guten Ton. Bei uns herrscht eben Pharisäertum in jeder Form.“ Dabei war Berdsenischwili als Dozent für Antike Literatur an der Tbilissier Universität selbst einst voll integriert in jene traditionelle Intelligezija, der er heute ein Dorn im Auge ist.

„Wenn Leute damals hier eine Bildung hatten, gehörten sie einer ganz bestimmten Klasse an und hatten mehr Einfluss in der Gesellschaft, als für alle gut war“, erinnert er sich. „Die Georgier hegen eine hypertrophierte Vorstellung von Dichtern, Schriftstellern und so weiter, das sind für sie Götter.“ Denn die einzelnen Völker in der Sowjetunion konnten ihre nationale Identität nur in ihrer Sprache und Literatur sowie ihren Filmen wiederfinden. Nicht zu vergessen: „Diese Filme, die unser Volk in aller Welt berühmt gemacht haben, sind nicht für georgisches Geld gedreht worden. Die Sowjetunion ließ sich die Existenz eines Phänomens namens ‚georgisches Kino‘ sehr viel kosten.“

Wie die meisten Lehrer und Dozenten, so Berdsenischwili, habe auch er zur Sowjetzeit sein Amt zur Verbreitung nationalromantischer Ideen missbraucht. Als der Altphilologe 1984 wegen antisowjetischer Propaganda verurteilt wurde, weinte der Staatsanwalt. Sogar dem Richter standen Tränen in den Augen, weil der Angeklagte ein so guter Patriot war. Berdsenischwili verbrachte drei Jahre in russischen Zwangsarbeitslagern.

Während der Diktatur des Schriftstellers Swiad Gamsachurdija, 1991 bis 92, musste sich Berdsenischwili allerdings mit dem Verkauf von Computern über Wasser halten. Gamsachurdija hetzte die Georgier, vor allem die vielen arbeitslosen jungen Männer, gegen die ethnischen Minderheiten im Lande auf. Damals kochten die georgischen Massen vor Überheblichkeit.

„Wovon soll euer Volk denn nach dem Austritt aus der Sowjetunion leben?“, fragte ich damals Schota, den unterbeschäftigten Absolventen einer Musikhochschule. Er antwortete „Unsere Jungs sind doch cleverer als die Amis. Wir programmieren denen dort ihre Computer, und die Honorare schicken wir dann zum Aufbau unseres Landes nach Hause.“

Berdsenischwilis Bruch mit seinen Illusionen über das eigene Volk kam, als er zu jener Zeit die öffentlichen Versammlungen beobachtete. „Bis dahin hatte ich uns Georgier für besonders human gehalten. Damals verstand ich, dass wir zwar Menschen sind, aber besonders rückständige Menschen.“ Wie fast für alles in seinem Lande hat der Bibliotheksdirektor auch für diese Selbstüberschätzung eine Erklärung. „In der Sowjetzeit dachten viele, Russland sauge alle ökonomischen Ressourcen aus Georgien heraus. Wir wussten nicht, dass die Sowjetunion ein derart dämlicher Staat war, dass sie uns in Wirklichkeit durchfütterte. Besonders hoch schätzten wir unser eigenes intellektuelles Potenzial ein, weil wir in Moskau alle um den Finger wickelten.“ Wie? „Wenn ich als hiesiger Chef irgendeiner Einrichtung die Situation zu meinen Gunsten korrigieren wollte, fuhr ich nach Moskau mit ein paar Flaschen georgischem ‚Konjak‘ im Gepäck und stellte sie dem zuständigen Mann dort auf den Schreibtisch. Wir Georgier waren da einfach dreist. Außerdem waren wir, statistisch betrachtet, das Volk mit den meisten Hochschulabschlüssen weltweit. Die Diplome waren zwar nicht viel wert, aber fast jeder hatte eins.“

Die natürlichen Ressourcen Georgiens seien bescheiden, meint Berdsenischwili, sie könnten aber reichen, wenn der Staat sie verantwortungsvoll verwalte. „Aber“, so klagt er, „wir haben einen ephemeren Staat. Alles hier ist Bluff. Das da oben ist keine Regierung, das da unten ist keine Zivilgesellschaft, das da drüben ist keine Universität. Und was Sie da als Mineralwasser in Ihrem Glas haben, ist wahrscheinlich keins.“

Ich denke da an Schota, der jetzt einen kleinen Sohn hat. Neulich zeigte er im Laden auf eine Packung mit international bekanntem Kinderbrei. Und fragte die Verkäuferin: „Das da, ist das etwas Gutes?“ Die antwortete: „Für ihr Söhnchen wohl eher nicht.“ Im Klartext heißt so etwas: Das Label ist gefälscht.

Als besondere Mogelpackung seines Landes betrachtet Berdsenischwili das georgische Parlament. Genüsslich konstatiert er: „Zu einer Prügelei kommt es in unserem Parlament etwa zehnmal pro Jahr. Dabei werden sogar Waffen eingesetzt. Kürzlich bekam ein Mitglied der Sozialistischen Partei einen schweren Aschenbecher an den Kopf, und zwar deshalb, weil er vorher einen anderen Deputierten als ‚Armenier‘ und ‚Päderasten‘ bezeichnet hatte. Wir leben also in einer Gesellschaft, in der man einen Menschen beleidigen kann, indem man ihn als Armenier bezeichnet. Und das in einem Land, in dem von alters her eine halbe Million Armenier lebt.“ Hier haben wir den georgischen „Provinzialfaschismus“, wie Berdsenischwili ihn nennt und gegen den er seinen persönlichen Kreuzzug führt.

Nur im kulinarischen Bereich ist Berdsenischwilis Patriotismus noch ungebrochen. „Das einzig Echte, was es in Georgien noch gibt, ist die Küche. Obwohl es einem natürlich passieren kann, dass man in irgendeinem Supermarkt ein Huhn kauft, das der Bezeichnung ‚georgisches Huhn‘ nicht würdig ist.“ Und auf noch etwas, so meint der Publizist, sei heute in Georgien – anders als in einigen Nachbarländern – Verlass: auf die Freiheit des Wortes. Seinen Posten als Direktor der Nationalbibliothek hat er schon seit fünf Jahren inne, obwohl er – heute als Showgast – in zahlreichen Fernsehauftritten den Präsidenten Schewardnadse kritisiert.

Der, so meint Berdsenischwili, sei längst nicht mehr legal, weil auch die letzten Präsidentenwahlen von 2000 keine echten Wahlen mehr gewesen seien. „Wenn ich meinen Augen mehr glaube als meinen Ohren, dann haben diese Wahlen gar nicht stattgefunden. Meine Frau und ich gingen gegen vierzehn Uhr zur Wahl. Von denen, die in der Wählerliste abgehakt wurden, waren wir die Nummern drei und vier. Nummer eins war der Vorsitzende der Wahlkommission, Nummer zwei der Sekretär. Doch offiziell meldete man in unserem Bezirk eine hohe Beteiligung.“

Und trotzdem hegt er in der Bibliothek die Hoffnung für die bevorstehenden Wahlen, dass die Bevölkerung, vor allem die oppositionellen Studenten, bei der diesjährigen Wahl allzu krassen Betrug verhindern können. „Niemand hier ist mit dem gegenwärtigen Zustand des Landes zufrieden“, sinniert Berdsenischwili: „Niemand. So eine Stimmung herrscht vor großen Ereignissen, und wir stehen jetzt an der Schwelle zu solchen Ereignissen. Wir haben die Chance, unsere Stimmen einer neuen Generation von Politikern zu geben. Das sind Leute, die vielleicht noch in der Sowjetunion geboren wurden, die aber in ihr noch keine Politik gemacht haben. Sie verfügen deshalb über eine ganz andere Energie. Sie haben schon die Welt gesehen, und sie wissen, dass wir nicht das gebildetste, nicht das klügste und auch nicht das ressourcenreichste Volk sind. In dieser Selbsterkenntnis liegt unsere Chance.“

BARBARA KERNECK, 56, lebt als freie Autorin in Berlin. Von 1988 bis 2000 war sie in Moskau. Seit 1976 reist sie immer wieder nach Georgien und ist so Zeugin aller neueren Entwicklungsperioden dieses Landes geworden