Wer war, wer ist Andreas?

Mythos RAF? Nein: Baader ist das Rätsel! Eine Pop-Ikone, unverdaulicher Fremdkörper deutschen Bewusstseins, unpolitischer Politiker, Signifikant reiner Gewalt, Anarchie in Person, fast ein Che. Was auch immer, vor allem war er ein Phänomen. Ein Versuch, den Typ des Andreas Baader zu verstehen – auf dass die ganze Aufregung sich wirklich lohnt

von ROBERT MISIK

Die Unterstellung, dass die RAF ein Mythos umwehe, bescherte Deutschland eine hitzige Debatte, die erst mit dem Ende des Sommers abkühlte. Ein dürres Konzeptpapier der Berliner Kunst-Werke trat einen Schwall der Entrüstung los, da halfen alle Einwände nicht, etwa von Jens Jessen in der Zeit, wonach die RAF-Leute „in der Welt der Popkultur längst zu glitzernden Ikonen der Gewalt geworden“ sind – unabhängig davon, ob dies die Ausstellungsmacher nun abzubilden versuchen oder nicht.

Und die Neue Zürcher Zeitung formulierte: „Die Ambivalenz, in der RAF etwas anderes zu sehen als eine gewöhnliche Mörderbande, begleitet die Bundesrepublik bis auf den heutigen Tag.“ Die Ausstellungsmacher versuchten tapfer dagegenzuhalten, es gehe ihnen eigentlich um Entmythisierung, ihnen selbst sei die Verwandlung der RAF zur bloßen Chiffre für rebellische Gesten ein Dorn im Auge.

Bei all dem wortreichen Für und Wider blieb eines aber erstaunlich unausgesprochen, auf signifikante Weise weggeschwiegen: dass es vielleicht weniger angebracht ist, von einem Mythos RAF zu sprechen als von einem Mythos Baader. Es ist der Typ Baader, der, als Outlaw-Ikone des völlig Entgrenzten, Anarchischen, seine Wiederauferstehung als Popfigur in jüngerer Zeit erlebt (sei es in Gestalt des notorischen „Prada-Meinhof“-Chics oder in der Dokumentation „Staatsfeind Andreas Baader“), es ist Baader, der im Bewusstsein der Deutschen wie etwas Unverdauliches stecken bleibt.

Ulrike Meinhof, brillante Journalistin, die, in überzogener Konsequenz, in den Untergrund ging, ist längst heimgeholt in den Pantheon deutscher Moralisten, ebenso die Pastorentochter Gudrun Ensslin, der man zubilligt, sie habe die universalen Befreiungsbotschaften, die sie in ihrem Elternhaus aufgesogen hatte, nur ein wenig zu radikal gewendet, mit schwäbischer Dickköpfigkeit gewissermaßen – böse Fee und gefallener Engel zugleich.

Als gespaltene Subjektivitäten, die auf dem Weg in den bewaffneten Kampf eine andere Seite in sich immer niederkämpfen mussten, sind diese beiden Zentralfiguren der RAF seit langem Objekt eines sanft-verständigen Blickes aus dem liberalen Mainstream: zwei gut geratene, vielleicht zu gut geratene und deshalb aus der Bahn geworfene junge Frauen, eigentlich selbst Opfer einer fatalen Mischung aus Moral, Strenge und Weltabgewandtheit.

Nur Baader blieb solch wohlmeinendem Moralismus unbegreiflich, damit aber auch unberührt von posthumen Eingemeindungsversuchen in die Grenzen gewissensgeleiteten Aufbegehrens. Er blieb Folie vitalistischer Militanzfantasien, Chiffre nackter Gewaltttätigkeit – und damit Faszinosum: Monster und Marlon Brando in einem.

Nichts als Pop und Kitsch, winken da manche ab. Was aber, wenn sich gerade in dieser Zuspitzung eine Wahrheit, ein Geheimnis erweist? Irgendetwas war in der Frühphase der RAF, dessen Glanz nicht verglühen will, während die Kommandoerklärungen und „Info“-Kassiber der Siebziger längst Textschrott sind. Darauf deuten, vielleicht unfreiwillig, auch zwei Publikationen dieses Herbstes hin. Gerd Koenens Dreiecksbiografie „Vesper, Ensslin, Baader“ ebenso wie, auf völlig andere Weise, das Erinnerungsbändchen „Wir kamen vom anderen Stern“ von Thorwald Proll.

Proll machte die ersten Schritte in den Untergrund mit, legte mit Baader und Ensslin 1968 in einem Frankfurter Kaufhaus Feuer, was als Fanal gegen den Vietnamkrieg gedacht war, aber auch als Provokation gegen die schwafelnde Linke, „etwas zu tun“, „zu handeln“. Ist es Zufall, dass plötzlich die Blicke zurückgehen auf die Urszenen des deutschen Terrorismus?

Baader ist und bleibt das große Fragezeichen. Kein Buch, kein Artikel, kein Interview zum Gesamtkomplex RAF, das aktuell nicht in die Frage münden würde: „Wie war Andreas?“

Bei Proll heißt es: „Andreas war ein hübscher Typ, er hatte einen gewissen Charme, ein etwas verschlafenes, witziges Gesicht. Er war sehr ironisch und hatte einen bösartigen Humor.“ War die RAF ein Zerfallsprodukt der radikalen Studentenbewegung der 60er, ein Produkt von 68, so war Baader doch gerade der Antitypus des Achtundsechzigers. Er brach aus der (klein)bürgerlichen Enge der Wiederaufbaurepublik nicht aus, denn er hat sie nie von innen gesehen.

Aufgewachsen unter Kriegerwitwen, vergöttert von Mutter, Großmutter, Tante, früh überzeugt von seiner Singularität, viril, mit Starallüren schon als Outlaw und Kleinkrimineller, der sich in München mit der Polizei balgte und schnelle Schlitten klaute. Randfigur der Schwabinger Bohème, beherrschte Baader jedoch nichts außer der Ichdarstellung. Bei seinem späteren Entree in Berlin wird er sich manchmal als Kunststudent ausgeben: brillanter Blender, aber auch ein Marketinggenie avant la lettre. Insofern ist der Umstand, dass die RAF eine Renaissance als Popphänomen erlebt, nur halb erstaunlich, denn sie war in gewissem Sinne immer schon Pop.

Von Stilwillen war der Auftritt von Baader, Ensslin & Co. bereits beim Frankfurter Kaufhausbrandstiftungsprozess geprägt. „Thorwald Proll trat als Verschnitt aus Fritz Teufel und Bertolt Brecht auf“, beschreibt Koenen die Szene. „Baader gab mit bewährter Attitüde den Belmondo oder Brando, nach einem Text von Genet oder Bukowski. Und Gudrun war die Muse … irgendwo zwischen Lasker-Schüler, Luxemburg und auch der Sagan.“ Die rote Lacklederjacke, die sie berühmt machte, hatte sie sich extra für diesen Auftritt von ihrem Exverlobten Bernward Vesper besorgen lassen. („Selbach, C&A?“, heißt es in dem Brief aus dem Gefängnis).

Wie weit dieser Stilwille ging, wurde erst unlängst bekannt, als Holm von Czettritz, ein alter Freund Baaders aus Schwabinger Tagen und prominenter Grafiker, berichtete, dass ihn sein Kumpel, da war der schon längst im Untergrund, überraschend besuchte. Er habe sich ins Fauteuil gelümmelt, die Knarre auf den Tisch gelegt und ihn gebeten, das RAF-Logo, den fünfzackigen Stern mit der Maschinenpistole, gewissermaßen auf die Höhe des zeitgenössischen Designs zu bringen.

Von Czettritz hat das lediglich mit dem Hinweis abgelehnt, dass das Kartoffelschnittartige des „provisorischen“ Logos der „Corporate Identity“ der RAF doch bestens entspreche. „Das sag ich dir als Markenartikler“ – mit diesen Worten von Czettritz war die Idee zum Relaunch vom Tisch.

Baader, der Exzentriker. Baader, der Abenteurer, ein Heros der Gewalt, lebenshungrig, aber auch voll Todessehnsucht schon, bevor er noch zum politischen Desperado wurde. Gefühlskalt, anmaßend, irgendwie aufdringlich, Prediger der „Härte“. So wird er ein ums andere Mal beschrieben: „Der schiere Anarch, der Prototypus eines rebel without a cause, der zu jeder Zeit Action um sich brauchte und von dem selbst im Zustand schläfriger Inaktivität eine elektrische Unruhe ausging“ (Koenen).

Ein Menschenfischer, aber auch ein großer Arsch. Der große Manipulator, der mit seiner Religion der Tat die hochmoralischen politischen Radikalen in seinen Bann schlug, die endlich „etwas tun“ wollten, aber an ihrem Mangel an krimineller Energie oder auch zu wenig Wagemut scheiterten. „Wir haben gelernt, dass Reden ohne Handeln Unrecht ist“, formulierte Gudrun Ensslin in ihrem ersten Prozessplädoyer.

Als „deutschen Dandy“ hat Karin Wieland Andreas Baader seinerzeit im Kursbuch beschrieben, als „Dandy des Bösen“. Auf der Flucht, in Rom, hat er sich beim Komponisten Hans Werner Henze ein paar Seidenhemden „geliehen“, mit denen er später in Berlin renommierte. Seine „Kraft und Vitalität“ hätten sie an Baader von Beginn an fasziniert und vor allem seine „schlechten Manieren“, sagt Astrid Proll, die als junge Frau zur ersten Generation der RAF gestoßen war. Nicht sehr viel anders klingt das bei Daniel Cohn-Bendit, damals schon eine Szenegröße: „Der Typ war faszinierend, weil er ein Drop-out war. Mit seiner Männlichkeit hat er autoritär fasziniert.“ Schwer war es, so Peter-Jürgen Boock, „sich ihm zu entziehen. Was er sagte, wie er es sagte, hatte etwas Hypnotisches.“

Und doch fragt man sich immer bei solchen Passagen, wie viel davon nachträgliche Deutung ist, wie viel Erinnerung vom Mythos bereits gefärbt ist. Je mehr Baader „zu einer deutschen Ikone“ (taz) avanciert, desto unklarer werden die Umrisse dieser verstörenden Figur. „Wollte er ein Held sein? Ja, in vielerlei Gestalt halte ich das für möglich“, stellt sich Thorwald Proll die bohrende Frage, die für ihn so lautet: „War die RAF das Spiegelbild eines narzisstisch-heroischen Einzelnen?“

Baader bleibt eine offene Frage. Gerade deshalb taugt er als Projektionsfläche, auch weil von ihm wenig mehr geblieben ist als die Bilder einer jener Filmfiguren, die ein bisschen von „Befreiung erzählen und wie Werbung aussehen“ (Stefan Reinecke). Anders als Ensslin hat er nicht zärtliche Briefe an Ex und Verwandte hinterlassen, anders als bei der Meinhof sind von ihm keine Texte erhalten, in denen er mit sich ringt. Das mag damit zu tun haben, dass er solche Texte nie geschrieben hat, oder damit, dass der Briefwechsel Baader/Ensslin auf der Fahrt nach Sizilien ausgerechnet von italienischen Autoknackern geklaut wurde.

Von Baader ist gewissermaßen nur der Posterboy geblieben, der Fahndungsposterboy, die reine Kultfigur, zu der er sich zeitlebens stilisierte und von seinen Adorantinnen stilisieren ließ, die „Anarchie in Person“ (Ensslin). Die Meinhof schrieb in Stammheim: „so ist andreas der guerilla, von dem che sagt, dass er die gruppe ist.“

Der „Wahnsinn“, den Baader personifizierte, war es, der von Beginn an den „Mythos RAF“ schuf, nicht die „Restvernunft“, die in den rabiaten Humanistinnen Ensslin und Meinhof hockte. Gudrun Ensslin traf gewiss einen Punkt, als sie formulierte: „was dem europ. Kampf um den Sozialismus seit 100 J. fehlt, ist doch das ‚wahnsinnige‘ Element.“ Der Topos der Selbstbefreiung durch Gewalt, in der Gewalt, reiner Gewalt – seit je Element der linken Erzählung von der Aufhebung der Entfremdung – fand in Baader seine von nahezu allen anderen Eigenschaften freie Repräsentanz.

Ähnlich wie bei Che, der seine dunklen Gesänge hinterließ vom „Hass als Faktor des Kampfes“, vom Hass, der den Revolutionär „in eine wirksame, gewaltsame, selektive und kalte Tötungsmaschine“ verwandelt, ihn befähigt zum „absoluten Krieg“ für die „Erlösung der Menschheit“. Bei Che entsteht das Panoptikum eines Armageddon aus Feuer und Stahl. „An welchem Ort uns der Tod auch überraschen mag, er sei willkommen, wenn unser Kriegsruf nur aufgenommen wird.“

Nur Baader hat in der Ruhmeshalle europäischer Rebellen etwas von Che. Und doch ist er auch der Anti-Che schlechthin. Denn der Mythos Che lebt noch von der Ambivalenz: die Moral in Waffen, Jesus Christus mit der Knarre. Ein Rambo, aber ein sensibler. Zarter Finger und Eisenfaust. Baader war da, sozusagen, eindimensionaler: nur Mordgesell, ohne Gewölk von der „Zärtlichkeit der Völker“.

Was sie dennoch eint: eine Unbedingtheit, die herausragt aus der Langeweile des Alltags, ein Heroismus, der bis in den Tod führt. Der freilich nur konsequent zu Ende geht, was in der westlichen Kultur ein – auch literarisch – bekannter Topos ist, von Ernst Jüngers „Stahlgewitter“-Liebhabereien bis zu Régis Debrays Verachtung für alle Risikovermeidungsstrategien der „helvetisierten Europäer“: Krieg, wenn nötig einen Weltkrieg in Kauf zu nehmen, um der Langeweile zu entfliehen.

Für beide, Che und Baader, ist die Gewalttätigkeit der Schlüssel zur Eigentlichkeit, zum wilden, „ganzen Leben“, gelebt für einen historischen Augenblick, an dessen Ende nicht die Alternative Sieg oder Tod steht, sondern auf seltsame Weise beides. Denn da war auch eine gewisse Art von Sieg, über Konventionen, alle Gepflogenheiten, aber auch über alles Erwartbare, über alle Wahrscheinlichkeiten, auch der Revolutionsgeschichte, über jeden vernünftigen Begriff von Rationalität, schließlich über die Welt, die sich solchen verückten Heldentums nicht würdig erwies.

Es ist dies, was an Baader nicht in Verständnis auflösbar ist, in Verständnis „hehrer, aber verirrter Ziele“ wie bei Meinhof und Ensslin. Die Verirrung ist gewissermaßen das Ziel. Wolfgang Pohrt formulierte vor vielen Jahren: „Der öffentlichen Ächtung von Gewalt korrespondiert eine geheime Begeisterung für sie.“ So ist auch die Abwehr, die die Rede vom „Mythos RAF“ erfährt, nicht zufällig von einer Rigorosität, die jener der RAF selbst ähnelt: Sie ist die Abwehr der unleugbaren Faszination, die vom Baader’schen Typus ausgeht.

Baaders Aufstieg zur Popfigur zeigt frappierend, dass solche Zeichensprache durchaus zeitgemäß ist. Er war nur Desperado, ohne linksradikale Textbegründungen. Baader war schon Post-Politik, als die anderen noch krause Theorien wälzten. Baader ist unbewältigbar.

ROBERT MISIK, 37, lebt als Journalist in Wien. Jüngstes Buch: „Marx für Eilige“. Aufbau, Berlin 2003, 136 Seiten, 7,95 Euro LITERATUR: Gerd Koenen: „Vesper, Ensslin, Baader. Urszenen des deutschen Terrorismus“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003, 365 Seiten, 22,90 Euro; Thorwald Proll/Daniel Dubbe: „Wir kamen vom anderen Stern. Über 1968, Andreas Baader und ein Kaufhaus“. Edition Nautilus, 125 Seiten, 9,90 Euro. Das Gespräch Nike Breyers mit dem Grafiker Holm von Czettritz erschien unter dem Titel „Verbindlich war verdächtig“ im taz.mag vom 12. April 2003