Verbrechen muss sich wieder lohnen

Dem Theater wird der Prozess gemacht: Das neue, von Matthias Lilienthal geführte Theaterkombinat Hebbel am Ufer (HAU) aus Berlin-Kreuzberg eröffnete am Wochenende mit „Kunst & Verbrechen“, einem Marathon aus Videos, Real-Time-Filmen, Ritualen, Konzerten, Vorträgen und Party

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Kunst und Verbrechen: Ihre Verbindung wird aus einer romantischen Perspektive sichtbar. Die Übertretung der Regeln, die im Fall des Verbrechens den gesellschaftlichen Frieden gefährdet und sanktioniert wird, gilt auf dem Gebiet der Kunst als notwendiger Schritt, der Erstarrung in Konvention und Kitsch zu entkommen. Mit „Kunst & Verbrechen“ war das erste Wochenende im neu gegründeten Theaterverbund Hebbel am Ufer (HAU) in Berlin überschrieben. Die erste Übertretung der Regel galt den Gesetzmäßigkeiten des Theaterbetriebs selbst. Statt einer glamourösen Eröffnung gab es eher deren anarchisch subversive Karikatur. Hier wurde vieles in die Auflösung getrieben, als gelte es, dem Theater den Prozess zu machen. Dem größten der drei Häuser, dem Hebbel-Theater, war gar die Bestuhlung abhanden gekommen. Am Ende konnte es nach vielen Performances, Ritualen und Vorträgen, die alle um die Themen Kunst und Verbrechen kreisten, scheinen, als wäre das Theater hier selbst das Subjekt eines Verbrechens: verfolgt, untergetaucht und wieder detektivisch aufgespürt und rekonstruiert. Geschunden und auf dem Weg der Besserung.

Es begann mit einem Gründungsakt, der gleich den Widerspruch pflegte. „Verbrechen Sie Kunst!“, rief Thomas Flierl, der Senator für Kulturelle Angelegenheiten in Berlin, dem Hebbel am Ufer in seiner Eröffnungsrede zu und ließ seine freudige Erwartung erkennen, hier eine andere als die bürgerliche Öffentlichkeit gebündelt zu finden. Dass es Schnittstellen findet zu Szenen, die bisher eher selten den Weg ins Theater fanden: Das wird erwartet von dem Intendanten Matthias Lilienthal, der für sein Talent, aus dem Theater heraus an andere Diskurse anzudocken, bekannt ist.

„Warum diese Mühe?“, fragte Christoph Schlingensief, mit Lilienthal seit langem befreundet, in seiner anschließenden Predigt zur Segnung des Hauses. „Warum macht Lilienthal jetzt Theater, wo man doch auch ein schönes Parkhaus aus diesem Haus hätte machen können?“ Schlingensiefs antwortete sich selbst: „Das ist nicht Theater. Theater ist beendet.“ Die Freude Flierls, den er als „Kulturdirektor“ betitelte, war ihm verdächtig. Man ahne gleich: Der einzige Sinn der Institution Theater bestehe darin, „dass wir den Unsinn nicht auf der Straße treiben“.

Schlingensiefs Ansprache an die Gemeinde der Besucher war zugleich eine Trainingsstufe für Bayreuth und seine Beschäftigung mit Wagners „Parzifal“. Eine Antwort auf den Opfertod, den die Oper verklärt, hat Schlingensief schon auf einer Reise nach Nepal gefunden, in einem Ritual der Reinigung. Das übte er jetzt mit den Besuchern, um dabei gleich einige böse Geister aus dem Haus zu vertreiben, zum Beispiel den Geist der toten Sozialdemokratie. (Einige Stunden später wurde dieser Unsinn dann doch, wenn auch ohne Schlingensiefs Beteiligung, auf der Straße getrieben, als an einer Demonstration gegen Sozialabbau überraschender Weise 100.000 Menschen teilnahmen.)

Den spektakulärsten Showact der Eröffnung aber bot die Big Art Group aus New York mit „Flicker“ im HAU 2, dem bisherigen Theater am Halleschen Ufer. Zwei Erzählungen über eine Nacht des Horrors, von Massenmördern, Hysterikern und Schlitzern werden dabei mit Filmbildern, die live auf der Bühne entstehen, montiert. Dazwischen sieht man, wie die Darsteller unterhalb der Kameraaugen zum nächsten Bild kriechen oder im Bild erscheinende Körper von mehreren Darstellern hinter den Projektionswänden gebildet werden. Die Filmbilder fressen den Raum, die Kameras knechten die Körper. „Flicker“ ist durchgeknallt, trashig, lustig, voller Klischees eines sensationslüsternen Kinos und von verblüffender Perfektion in der Adaption der filmischen Techniken für das Theater. Zwar gibt es auch Mörder in den Bildern – aber deutlicher als in den meisten Kinothrillern wird, dass nicht sie die Triebfeder des gruseligen Geschehens sind, sondern die beobachtende Kamera. Die Sehsucht als Produktivkraft für Fantasien der Gewalt – in „Flicker“ scheint es, als könne kein Film das Kino so schön zelebrieren wie dieses Theaterstück.

Von einer ganz anderen Seite blickte Michael Zinganel auf das Verbrechen als Produktivkraft der Kultur. Er und seine Gäste saßen an Schreibtischen in HAU 3, dem kleinsten Bühnenraum der Hebbel-am-Ufer-Gruppe. Trocken zählte er auf: wie das Lesen der Spur im 19. Jahrhundert zuerst als kriminalistische Technik auftauchte und dann zur Leitfigur wissenschaftlicher Methoden wurde. Wie Geschichten des Verbrechens zur Einführung der ästhetischen Wahrnehmung der Großstadt dienten in den Romanen von Balzac, Poe und Hugo. Zinganels Gäste ergänzten: Der Autor Rolf Lindner verortete den Ursprung der soziologischen Feldforschung in der Polizeiarbeit im Chicago der 20er-Jahre. Dass dabei der Zugang zum Milieu nur über den Mythos der Gangster zu finden war, stellt gleich den Zweifel am Wahrheitsbegriff an den Anfang der Wissenschaft. Taz-Autor Helmut Höge war als Spezialist für den Kaufhauserpresser Dagobert eingeladen, dessen Produktivität sich vor allem für die Medien auszahlte. Sie haben an ihm ein Vielfaches seiner Erpresserbeträge verdient.

Kleine Gruppen pendelten zwischen den drei Theatern und folgten dem Programm, das immer mehr Puzzlesteinchen für den sinnstiftenden Kontext von Kunst und Verbrechen zusammentrug. Ausgewählt haben das Programm auf Einladung des Intendanten Matthias Lilienthal drei Kuratoren, Stefanie Wenner, Sylvia Sasse und Anselm Franke, die bisher eher im Kontext von bildender Kunst und Forschungsprojekten der Universität Künstler und Wissenschaftler zusammenbrachten.

Aus der Kunstszene waren vor allem die an Russland Interessierten gekommen, ging es doch in mehreren Veranstaltungen um die Reibung zwischen Kunst und Recht in Russland. Performance und künstlerische Aktion stellen dort noch einen ganz anderen Schutzraum für politische Artikulation dar und erhalten in der Suche nach neuen Formen der Öffentlichkeit eine andere Bedeutung als hier. Das Publikum dieser Vorträge glich schon ein wenig einer verschworenen Insider-Gemeinde. Wenn man dann aber in den mitgebrachten Filmen sah, wie in Moskau die Gruppe Radek Community allein aus dem Überqueren einer vielbefahrenen Straße am Morgen, mitten zwischen Schülern, Arbeitern und Angestellten, eine Demonstration des Überlebenswillens macht, wie sie mit dem Aufrollen eines Transparents aus zufälligen Passanten für wenige Sekunden ein Kollektiv formt, das von anderen Möglichkeiten des Lebens träumt, dann scheint die Verbindung wieder hergestellt: zwischen Theater und Straße, Leben und Kunst.