Das Märchen von Maria

Jenseits des Feuilletons: Paulo Coelhos neuer Roman „11 Minuten“ über das Schicksal einer Prostituierten steht diese Woche auf Platz 1 der Bestseller-Charts. Millionen weinen vor Rührung

von GERRIT BARTELS

Liest man Paulo Coelhos Biografie auf dessen Website www.paulocoelho.com.br, kann man schnell den Überblick verlieren, so ereignishaft und verschlungen ist dieser Lebenslauf: 1947 als Sohn eines Ingenieurs und dessen Frau geboren, auf einem Jesuitenkolleg erzogen, Mitglied von Theatergruppen, von den Eltern veranlasste Zwangseinweisungen in die Psychiatrie, Beginn eines Jurastudiums; Lebensmodellversuche als Hippie, Musiker, Songschreiber und Marxist; dann Häftling und Folteropfer, schließlich hauptberuflich Schriftsteller.

Noch mehr aber wird man erschlagen von den vielen Erfolgen, die Coelho dann als Schriftsteller verbucht. Ob in Russland, Frankreich, Portugal, den USA und mindestens 100 anderen Ländern auf der Welt, überall kletterten seine Bücher auf die vorderen Plätze der Bestsellerlisten. In Deutschland ziert sein erfolgreichstes Buch, der weltweit bislang 27 Millionen Mal verkaufte und demnächst mit Jeremy Irons und Madonna verfilmte Selbstfindungsroman „Der Alchimist“ seit seiner Veröffentlichung 1996 ununterbrochen die Top 15 der Spiegel-Bestsellerliste.

Schaut man sich dagegen die Feuilleton-Kritiken zu Coelhos 2001 erschienen Roman „Veronika muss sterben“ an, ergibt sich ein anderes Bild: Als plakativ und blutleer, als blass und hölzern werden dort die Romanhandlung und Coelhos Sprache beschrieben, und wenn mal ein Lob ausgesprochen wird, dann eher verdruckst-verschämt.

Das Publikum schert sich nicht um die Meinung der Kritik. Es hat auch Coelhos neuen Roman „11 Minuten“ problemlos an die Spitze der Bestsellerlisten gehen lassen. Diese Woche steht er auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste – ohne Rezensionen, ohne die Unterstützung von Elke Heidenreich, und vielleicht weil „Der Alchmimist“ seine Sogwirkung noch immer ausübt. Vor allem aber, weil sich in Coelhos Geschichten über Menschen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und ihrem persönlichen Glück wohl viel mehr Leser wiederzufinden scheinen als es dem Feuilleton lieb ist.

Einfach gestrickt sind diese Geschichten, schlicht geschrieben, machen Ausflüge in spirituelle, religiöse, esoterische, märchenhafte und historische Gebiete, enthalten viele Sentenzen wie diese, die sich gleich auf der ersten Seite von „11 Minuten“ findet: „Im Leben stehen wir schließlich auch dauernd mit einem Fuß im Märchen und mit dem anderen am Abgrund.“

In „11 Minuten“ erzählt Coelho das Märchen der Prostituierten Maria, die in einem kleinen Ort im Nordosten Brasiliens aufwächst, die Liebe und den Sex nicht kennen lernt, in Rio das Abenteuer sucht, einen Schweizer Nachtclubbesitzer kennen lernt, von diesem nach Genf gelockt wird und sich dort prostituiert: eigentlich ohne Not, nur um nicht zu früh nach Hause zurückkehren zu müssen. Maria macht ihren Job gut und die Beine immer brav breit, wie Coelho oft genug schreibt.

Sie will sich durchsetzen, sie hat Kraft und haufenweise Energien, sie macht sich in ihrem Tagebuch aber auch so ihre Gedanken über das Leben. Etwa solche: „Leben heißt etwas riskieren, hinfallen und wieder aufstehen; Leben ist wie Steilwandklettern, es bedeutet nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis man den eigenen Gipfel erklommen hat.“

Einen ersten Gipfel erreicht Maria, als sie im Genfer Jakobsweg, der mittelalterlichen Pilgerstraße nach Santiago de Compostela, die Coelho schon auf den richtigen Weg geführt hat, den Maler Ralf Hart kennen lernt. Der ist begeistert von ihrem „Licht“ – Maria ist eben eine Heilige, und ihr soll mehr vergönnt sein als die 11 Minuten, die die Menschen für Sex aufbringen: Liebe, Leidenschaft, Tralala. Der Weg dahin ist ein sprichwörtlich steiniger, doch am Ende wird alles gut.

Coehlo kennt nämlich kein Pardon. Grade räsoniert Maria am Flughafen noch, dass die Happy Ends in Filmen immer die nachfolgende Wirklichkeit ignorieren würden. Da wird sie von Hart abgefangen, mit Blumen und einem „Casablanca“-Satz: „Uns bleibt immer noch Paris.“

Ist das nicht schön? Müssen da nicht wieder Abermillionen von Menschen vor Rührung weinen? Und können so nicht auch Millionen von Prostituierten auf der Welt wenigstens für drei, vier Lesestunden ihr trauriges Schicksal vergessen? Coelho geht es nicht um soziale Realitäten, sondern um einfache Botschaften, um den heiligen Sex, nicht den schmutzigen, um Wärme und wohlfeile Lebenshilfe. Eine Biografie wie seine scheint zu solchen Anliegen zu verführen, die Kraft und die Herrlichkeit und das Amen kommen dann später.

Paulo Coehlho: „11 Minuten“. Aus dem Brasilianischen von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes Verlag Zürich 2003, 286 Seiten, 19.90 €