Hohn, Feinde, Schergen

Die Erinnerung liegt in Trümmern, und jeder nimmt sich, was zu passen scheint. Mit einer Sammlung von zweifelhaften Rio-Reiser-Coverversionen versucht die Tributplatte „Familienalbum“, den Ton-Steine-Scherben-Sänger nachträglich zur Vaterfigur einer großen deutschen Popfamilie zu machen

Seit Reiser tot ist, wird versucht, ihn zu einer deutschen Popikone zu stilisieren

von Jörg Sundermeier

Nichts ist, wie es bleibt. Diese Einsicht fällt Linken oft schwer. Konservativen dagegen erschließt sich dieser Satz erst gar nicht, denn einem Konservativen erscheinen Geschichtsverläufe als quasinatürlich, sodass Werte unverändert tradiert werden können. Linke hingegen versuchen eigentlich, gegen die Geschichte aufzustehen, was heißt: Sie halten die Welt für veränderbar. Doch sie lieben Ikonen. Daher ist eines der großen Probleme der Linken: ihre Toten. Ob Parteivorsitzender oder kleiner Arbeiterfürst – sind sie tot, ist ihr Erbe zur mutwilligen Interpretation freigegeben.

Auch Rio Reiser, der einstige Ton-Steine-Scherben-Sänger, soll, seit er tot ist, von seiner Familie und anderen Figuren aus dem Scherben-Umfeld zu einer nationalen Rock-Pop-Ikone stilisiert werden. Die Voraussetzungen dafür sind gut: Reiser, ein guter Sänger und Texter, hat leider nur selten gegen den Produktionsstandart ankämpfen können, der in deutschen Tonstudios gepflegt wurde. Durch das Eindrängen der Reiser’schen Texte und des trockenen, leicht rauchigen Gesangs in einen unsouveränen, gleichmacherischen Sound, gegen den selbst eine gute Komposition kaum ankommt, wurde Reiser nie zu einer Art Fassbinder, also zu einem Star, der das allgemeine deutsche Aufbegehren gegen Starfiguren ignoriert und sich seine Eigenheiten bewahrt hat. Reiser wurde zu einem Volksbarde, sei es nun mit der x-ten Wiederholung von „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ oder aber dem billigen Song „König von Deutschland“, auf dessen verdruckste Ich-Anmaßungen sich eine breite Hörerschaft einigen konnte. Anders allerdings als die ehemalige Scherben-Managerin Claudia Roth gab sich Reiser nicht plötzlich der Macht hin, sondern suchte Widerstand, wenn auch nur im Kleinen. Wenn sich Claudia Roth heute gern an Reiser erinnert, erinnert sie sich an den Mann, der zuletzt nicht für sie und die Ihren, sondern für die PDS auftrat. Jetzt aber, da Reiser tot ist, reklamiert ihn Roth wieder für sich.

Ähnlich hält es die Familie des Toten. Sie unterstützte die Auslobung eines Rio-Reiser-Songpreises, der vor zwei Jahren Teilnehmern das Thema „Heimat“ vorgab. Im Pressetext hieß es damals: „Wie sollte man authentisch sein Lebensgefühl in einem Song ausdrücken, wenn man nicht ehrlich sagt, was einen bewegt, wie sollte man Lieder machen, die ‚zu Herzen‘ gehen oder sich selbst und andere auf die Straße treiben, wenn man nicht davon singt, wie man sich zu Hause fühlt – in seiner Heimat, die man liebt oder die man hasst, nach der man sich sehnt oder die man nie wieder sehen will?“ Die Familie wolle „die gesamte Scherben-Geschichte in eine Familiensaga umbauen“, mutmaßt Wolfgang Seidel, Mitbegründer und ehemaliger Drummer der Scherben. „Heute wird sehr viel über die Person Rio Reiser geredet, aber wenig über das, was in den Scherben sonst noch drin war. Erstaunlich wenig wird vom Rio-Reiser-Archiv, das stolz darauf ist, jeden von Rio beschriebenen Zettel zu horten, über die Inhalte der Lieder geredet.“

Dementsprechend kommt nun eine Compilation auf den Markt, die die Plattenfirma als „Das Tribute Album des Jahres“ bewirbt und auf welcher eine illustre Künstlerschar Reiser-Songs covert. Nicht nur Reiser zu Lebzeiten nicht verbundene Leute wie Nena oder die Fehlfarben sind dabei, nein, auch Fettes Brot und die Bands Paula, Wir sind Helden oder Die Sterne mischen mit. Xavier Naidoo und seine Band Die Söhne Mannheims geben dem Song „Mein Name ist Mensch“ einen quasireligiösen Anstrich, und Ferris MC erlaubt es sich, den „König von Deutschland“ nicht nur in Hinblick auf Schröder, Bush jr. oder Oli P. zu „aktualisieren“, nein, er betont auch, dass er sich als König von Deutschland die Liebe von zweihundert Frauen wünsche. Das dürfte ganz in Reisers Sinne sein. Joachim Witt macht aus „Wo sind wir jetzt“ einen Nationalrock-Stampfer.

Einzig Marianne Rosenberg singt mit einigem Recht den Song „Für immer und dich“, den ihr Reiser seinerzeit anbot, den sie jedoch ablehnte, weil er ihr damals „zu sentimental“ war.

Bis auf diese Interpretation scheint das Album nur einen Sinn zu haben: das, wofür die Scherben einst standen, die Idee des „Was wir gemacht haben, kann jeder machen“ zugunsten eines Starkultes aufzugeben und Rio Reiser zur Vaterfigur einer national gedachten großen deutschen Popfamilie zu stilisieren. Anders lässt sich der Titel des Albums und die Zusammenstellung der Künstler nicht verstehen.

Reiser ist jetzt ein deutscher Star. Dieser Rio Reiser hat mit dem, der lebte, nur noch wenig zu tun.

V. A.: „Rio Reiser: Familienalbum - Eine Hommage“ (Safety Records/Edel)