Verschlungene Wege

Wo Schönheit mehr zählt als Kritik: Eine Reise mit Tankred Dorsts „Parzival“ nach Isfahan und Teheran. Vom Unfassbaren des Kulturaustauschs

Mythen, lernen wir, sind im Iran gerade groß in Mode, ganz ungebrochen

von DOROTHEA MARCUS

„Mein Leben ist mir gleichgültig, ohne die Freiheit, meine Liebe selbst zu wählen“, sagt Blanchefleur, als sie ihren Bräutigam verstößt, um Parzival zu wählen. In den Aufführungen auf Gastspielreise im Iran streichelt sie ihn in der Luft. Berührungen, so viel ist mittlerweile über den Iran bekannt, sind zwischen Mann und Frau verboten, auch auf der Bühne. Was für ein Satz in einem Land, in dem Frauen zwangsverheiratet werden können. Wie er gehört wird, erfahren wir nie.

Theateraustausch ist ein diffuses Geschäft – man kommt hierher und trifft auf die reine Begeisterung. Das erzeugt irgendwie ein leicht imperialistisches Gefühl, eine irreale Erwartung, als könne man dazu beitragen, das Land zu retten. Es mit gutem Theater anregen, liberale Kräfte stimulieren – im Ohr rauschen die triumphalen Berichte bereits hergereister Feuilletonisten. Seit 1999 Roberto Ciulli zum ersten Mal in Teheran spielte und dort ein überwältigendes Echo auslöste, seit mit Chatami ein vergleichsweise liberaler Präsident an der Macht ist, unterstützt die Bundesregierung den Kulturaustausch mit dem Iran – er scheint in diesem schizophrenen Land, zerrissen zwischen religiöser Regierung, Reformwillen und großem Kunstbedürfnis, ein vielversprechender Zugang.

Mit 40.000 Euro hat das Goethe-Institut die jüngste Reise eines deutschen Theaters finanziert. Das Freiburger Kinder- und Jugendtheater im Marienbad ist aus der 68er-Bewegung entstanden – und weil seine Struktur beweglich und leicht geblieben ist, eignet es sich für Reisen. Trotzdem ist der Tross groß, mit 45 Personen: Neben dem Ensemble sollen Journalisten, Professoren und das Autorenpaar Dorst/Ehler zu neuen Gesprächsdimensionen vorstoßen. Wenn es so einfach wäre.

Zum ersten Mal soll auch in Isfahan, einer bisher vom Theateraustausch unberührten 2-Millionen-Stadt, gespielt werden, denn Isfahan und Freiburg unterhalten die einzig bestehende deutsch-iranische Städtepartnerschaft. Zwei Tage vor Abreise erhielt das Theater ein eigenartiges Fax: Man sei zwar, so hieß es, herzlich eingeladen, sich die Schönheiten der Stadt anzusehen, spielen aber solle man nicht, das Bühnenbild könne zerstört werden – von jenen paramilitärischen Schlägertrupps, die im Iran vermeintlich niemand unter Kontrolle hat und die berüchtigt dafür sind, „unislamische“ Kulturveranstaltungen zu stören. Erst später wird uns klar, dass ein ausländisches Ensemble wohl nie angegriffen würde, die Drohung der „Schlägertrupps“ aber als Kontrolle des öffentlichen Raums funktioniert. Isfahan gilt zwar als schönste, aber auch als eine der konservativsten iranischen Städte – besonders, seit vor fünf Monaten der Bürgermeister gewechselt hat.

Als das Flugzeug landet, ist das Bühnenbild bereits aufgebaut, als wäre nie etwas gewesen – im neoklassizistischen Innenhof einer alten Schule, denn einen Theatersaal gibt es in Isfahan, der einstigen Kunstmetropole, nicht mehr. Ausgerechnet, hören wir, ein deutscher Bau aus dem Zweiten Weltkrieg, denn Schah Resa Pahlawi hatte gute Beziehungen zum Naziregime – mit freudigen Gesichtern beziehen sich iranische Taxifahrer immer wieder auf unsere gemeinsamen „arischen Wurzeln“, das ist hier ganz ohne Argwohn gemeint.

Obwohl die Gastspiele nicht in der Zeitung angekündigt sind, sind die zwei Abende mehr als ausverkauft – mit Studenten, Künstlern, Journalisten und Angestellten der Stadt. Vor dem Eingang bilden sich gar Schlangen von jungen Menschen mit Blumen in der Hand. Regisseur Dieter Kümmel lässt Dorsts „Parzival“ in der Einöde zwischen Mutter und Sohn beginnen. Parzival, der reine Tor, ist ein altersloses Kind, das aufwächst ohne Moral. Er verlässt seine Mutter, weil er genau das werden will, was sie ihm immer verboten hat: ein Ritter. Der grotesk ausstaffierte Junge gerät in die Hofgesellschaft, wird von ihr domestiziert – und bringt mit seinen Zivilisationswerkzeugen Messer und Gabel ihren unüberwindlichen roten Ritter um. Zum Helden geworden, führt er im Namen des Grals blutige Kriege – auf der Suche nach Heil oder Glück, vom Mittelalter zur Neuzeit, mitten durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Es hat etwas Absurdes, ausgerechnet im islamischen Gottesstaat die christliche Gralslegende aufzuführen – abendländischer Kulturimport im wahrsten Sinne des Wortes. Natürlich sollen hier keine Kreuzzugsmetaphern importiert werden – sondern eher Tankred Dorsts Kritik an ideologischen Heilsversprechen in ein Land getragen werden, in dem so etwas wie Heil staatlich verordnet ist. Ausgesprochen aber wird das nie – und das ist vermutlich auch besser so.

Im Iran ist der Parzival-Mythos völlig unbekannt. Immer wieder fühlen sich die Iraner an ihren Volkshelden Rostam aus dem „Buch der Könige“ erinnert. Noch nie, sagen die Iraner nach der musikalischen, bilderreichen Inszenierung, haben sie so etwas Schönes gesehen. Trotzdem erweisen sich die Podiumsgespräche auf der zweiwöchigen Reise zunehmend als ungeeignet – in einem Land, in dem öffentliches Sprechen bestraft werden kann, wären kleine Workshops wohl ein besseres Mittel. Langwierig sind die Übersetzungen, nie geklärt die Bedeutungen der Begriffe, zu abstrakt die Fragen der Iraner, die nach dem „Unterschied von Geste und Wort“ fragen. Was kommt hier an, wenn Tankred Dorst von seinem gebrochenen Verhältnis zu Helden spricht? Helden scheinen hier vor allem jene jugendlichen Märtyrer zu sein, die im Iran-Irak-Krieg gefallen sind, sie blicken als entrückte Gestalten von Häuserwänden und sind auf den Geldscheinen zu Wasserzeichen geworden.

Jenseits der Podiumsdiskussionen werden die Zuschauer lebendiger. „Wenn wir so ein Theater sehen, erkennen wir unser Unglück in diesem Land“, sagt ein Journalist. „Jeder Zuschauer im Iran ist ein Parzival auf der Suche nach sich selbst. Parzival tut das auf der Bühne nur viel offener – und wird seinen Weg wohl schneller finden als wir“ – will eine Frau unbedingt loswerden. „Es grenzt an ein Wunder, dass ihr es trotz des neuen Bürgermeisters geschafft habt, in Isfahan zu spielen“, meint der Künstler Akbar Mikhak, „das erste Mal seit langer Zeit hatten junge Menschen hier ein Forum, um sich auszudrücken – das müsste der Anfang von etwas sein.“

Doch die Inhalte, die sich nach vielen mühsamen öffentlichen Gesprächsstunden herausschälen, führen weg von der Gegenwart. Auch in persischen Legenden gibt es eine Gralsvorstellung – die aber, im Gegensatz zu Dorsts Beschreibung weltlicher Glückssuche, ganz und gar religiös gemeint ist. Mythen, lernen wir, sind im Iran gerade groß in Mode, doch der Bezug auf sie wird ganz ungebrochen verherrlicht. Wir sehen ein Stück des bekanntesten iranischen Gegenwartsautors Bahram Bezai, es ist ein Durchgang von der Zeit aus 1001 Nacht in die Gegenwart. Das Stück ist in Teheran der Renner der Saison, weil Bezai sich auf vorislamische Mythen bezieht und damit indirekt das Regime kritisiert. Für unsere Augen ist es gewöhnungsbedürftig, ein folkloristisches Boulevardstück, bunt und kitschig.

Kurios auch die Vorträge zur deutschen Dramatik: Mit ungläubigem Erstaunen reagieren Iraner auf die Auswüchse des deutschen Stadttheatersystems, auf Regiedekonstruktionen und Textverwüstung, auf den Unglauben, das Wirklichkeit auf dem Theater heute noch darstellbar sei. Ihre Widersprüche sehen anders aus: Es ist ein Land, in dem Frauen vor Männern nicht singen dürfen, im Taxi aber Christina Aguilera läuft. Ein Land, in dem Frauen nicht Fahrrad fahren dürfen, es aber schätzungsweise 300.000 bis 400.000 Karatekämpferinnen gibt. Ein Land, in dem die Kopftücher der Frauen kaum weiter nach hinten rutschen könnten. Ein Land, in dem ungeheurer Theaterhunger und Neugier herrschen und in dem wir doch trotz aller Wärme und Offenheit nur Reisende auf unsicherem Boden sind – vielleicht ist diese verschüchterte Gewissheit das einzige, was wir wirklich mit nach Hause nehmen können.