„Digitale Fotografie ist paradox“

Das im Computer generierte Bild sieht heute glaubwürdiger aus als das Zelluloidbild – „Aber noch gelten die alten narrativen Standards“. Ein Gespräch mit dem Filmwissenschaftler David Rodowick über die Digitalisierung und die Zukunft des Kinos

„Wir verstehen kaum, wie wir in der Lage sind, Bewegung wahrzunehmen“

Interview CLAUDIA LENSSEN

taz: Herr Rodowick, die Digitalisierung des Kinos ist im Gang. Welche Änderungen bringt sie für die Zuschauer?

David Rodowick: Auf den ersten Blick ist das nicht die Revolution, von der die Industrie gern spricht. Die digital produzierten Hollywoodfilme der letzten Zeit – zum Beispiel „Star Wars – Attack of the Clones“ oder „Matrix“ – erzählen Geschichten, wie es Filme im Grunde seit 1915 tun. Es gibt zwar stilistische und thematische Innovationen, aber noch gelten die alten narrativen Standards. Die Grundformen des Erzählens und die räumliche Organisation durch den Schnitt sind unverändert.

Es ändert sich nichts?

Wenn es eine Revolution geben wird, dann im Hinblick auf das Kino als Ort sozialer Erfahrung. Seit zehn Jahren geht der Kinobesuch weltweit radikal zurück. Die Filmindustrie verdient mehr Geld mit dem Verleih und Verkauf von Videos und DVDs als an den Kinokassen. Heimkino ist längst die beliebtere Art, Filme zu sehen. Auch die Videospiel-Industrie macht in den USA mehr Profit als die heimische Filmindustrie. Kino verliert an Prestige. Mit zynischem Blick betrachtet, könnte man sagen, dass jeder Kinostart nur noch als Werbestrategie dient für den Absatz auf dem Video- und DVD-Markt und für die Erlöse durch Videospiele, Spielzeug, Fan-Artikel, Themenparks und Markenprodukte.

Verschwinden die Kinos?

Ich glaube nicht. Der Kinobesuch wird als eine Möglichkeit erhalten bleiben, wenn auch nicht als die primäre. Die Leute gehen eben gern aus. Sie stellen einen Babysitter an, lassen ihm ein Video da und unternehmen etwas. Viel interessanter ist, was passieren wird, wenn das Zelluloid verschwindet.

In der Produktion ist das doch längst ein alter Hut.

Es ist ein komplexes Thema, das mich sehr beschäftigt. Es gab eine erste Phase der Transformation mit „Jurassic Park“. Das war 1993. Der Film überzeugte die gesamte Filmindustrie davon, dass fotorealistische Effekte möglich waren. Ein digitales Bild konnte von da ab den gleichen Grad an Glaubwürdigkeit erreichen wie eine Fotografie.

Was war mit „Terminator 1“ und „Terminator 2“?

Man konnte sehen, dass es sich dabei um digitale Animation handelte. Aber die Dinosaurier in „Jurassic Park“ waren ein verblüffendes Paradox, denn digitale Fotografie ist paradox. Hollywood arbeitete danach immer stärker an der Synthese. Von Computern generierte Bilder wurden zum Medium der Kreativität erklärt, fotografische Aufnahmen auf Zelluloid dagegen als Behinderung. Das war der Wendepunkt, den „Jurassic Park“ einleitete. „Star Wars – Attack of the Clones“ wurde dann der erste große Start eines vollständig digitalisiert gedrehten Films. Sein Vertrieb lief noch über Zelluloid, weil die Kinos nur mit Zelluloidprojektionsmaschinen ausgestattet sind. Aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren werden die meisten auf elektronische Projektion umrüsten.

Zwangsweise?

Stellen Sie sich vor: Eastman Kodak geht es so schlecht, dass die Firma kürzlich bekannt gab, innerhalb der nächsten zehn Jahre die Rohfilmproduktion einzustellen.

Bedauern sie, dass das Zelluloid verschwinden wird?

Wir sind in einer interessanten Zwischenphase, in der experimentiert wird. Ich dachte bisher: „Wenn es ausschaut, quakt und watschelt wie eine Ente, dann ist es eine Ente.“ Digitale Produktion oder Postproduktion schien mir kein grundlegender ästhetischer Umsturz, eher eine ökonomische Frage. Vor nicht langer Zeit habe ich noch gedacht, dass ein guter digitaler Film im Grunde nicht unterscheidbar ist von einem gut projizierten 35-Millimeter-Film.

Was hat man Ihnen zuletzt in den USA gezeigt?

Ich habe im Entertainment Technology Center in Los Angeles gesehen, wie man Technologien für die digitale Projektion von Kinofilmen testet, die als Track von der Festplatte per Kabel oder Satellit in die Kinos gelangen sollen. Das ETC ist ein Labor, das von der Filmindustrie, vor allem den Lucas-Studios, und von der Universität von Southern California gemeinsam getragen wird. Man zeigte mir alles Mögliche, voll synthetische Bilder wie „Shrek“ oder „Toy Story“ bis zu Material, das fotografisch Analoges in verschiedenen Graden mit Digitalem kombiniert. In manchen Clips hatten nur die Schauspieler eine Art analoge Präsenz im Bild. Es gab auch 35-Millimeter-Material, nachträglich digitalisiert. Kurz und gut: Material, das ursprünglich digital synthetisiert war, sah in meinen Augen in der digitalen Projektion besser aus als auf der Zelluloidkopie. 35-Millimeter-Film sah dagegen ziemlich erbärmlich aus.

Hat die Industrie das interaktive Kino als Entwicklungsziel aufgegeben?

Die Voraussagen über interaktives Kino, die vor zehn oder fünfzehn Jahren veröffentlicht wurden, sehen heute wie schräge Science-Fiction aus. Hollywood produziert narratives Kino und daneben interaktive Unterhaltung in neuen Medien. Das sind miteinander verzahnte aber unterschiedliche Dinge. Wenn die Leute ins Kino gehen, wollen sie der Zeitlichkeit des Geschichtenerzählens folgen. Und wenn sie interaktive Aktivitäten wollen, spielen sie zu Hause mit ihren Computern.

„In manchen Clips hatten nur die Schauspieler analoge Präsenz im Bild“

Was wird aus den Schauspielern?

Ich habe den „Mary Poppins“-Test erfunden. Das war der erste Disney-Film, der Zeichentrickfiguren mit Live-Acting-Schauspielern verschmolz. Animation sah wie Animation aus und Dick van Dyke wie Dick van Dyke. Heute handelt es sich um komplett digitalisierte Welten, an die sich Schauspieler physisch anpassen, in die sie sich integrieren müssen. Animation hat sich in eine fotografische Welt implantiert, die ihr fremd ist. Roger Rabbit müsste zum Beispiel heute mit der fotografischen Welt interagieren. In „Herr der Ringe – Die zwei Türme“ geht die Umkehrung noch weiter: Der Golm, ein künstliches Wesen, wirkt glaubwürdig. Wie bei „Spider-Man“ wurden die Bewegungen als Motion-Capture aufgezeichnet. Die Schauspieler agieren vor einem Bluescreen, es gibt keine Sets mehr. Ich bin schon lange dafür, dass es für solche Leistungen eine Oscar-Kategorie geben sollte.

Was sagt solches Kino über die Entwicklung der Wahrnehmung aus?

Wenn digitale synthetische Bilder in digitaler Projektion besser aussehen, dann weil sie genau dafür produziert wurden. Ihre Farbsättigung, ihre Kontrastschärfe sind dafür geeignet. Dagegen wird es beim Transfer auf 35-Millimeter-Rohfilm Verluste geben. Deshalb glaube ich, dass er verschwindet. Und nicht zuletzt wird der Verleih billiger, wenn man die schweren Filmdosen los wird.

Dagegen steht die Tatsache, dass wir immer noch kaum verstehen, wie wir in der Lage sind, Bewegung wahrzunehmen. Mehr als ein Messen der Informationsmengen in analogen und digitalen Bildern ist noch nicht erreicht. Was die Leistung von Auge und Gehirn und die interpretative Psychologie der Zuschauer angeht, fehlen die Forschungsergebnisse. Subjektiv können das allerdings die Ästheten unter uns erklären.

Kann man sich der Digitalisierung widersetzen?

Das ETC in Hollywood möchte die Unterschiede zwischen Zelluloid und digitalem Ausgangsmaterial in der digitalen Projektion zum Verschwinden bringen. Die Einzigen, denke ich, die dem Wandel widerstehen, sind die Filmemacher, die nicht im Lucas-Camp stecken. Viele werden darauf bestehen, weiter 35-Millimeter-Filme zu drehen. Wenn jedoch erst mal die Kinos an die digitalen Codes angeschlossen sind, wird es ökonomisch zum Luxus, Rohfilm zu verwenden. Aber Filmemacher, die ja die am besten trainierten Augen dafür haben, was es heißt, Fotografie kreativ zu nutzen, die werden verzweifelt das Gefühl haben, etwas zu verlieren. Es ist wichtig, darauf zu hören, was ihrer Ansicht nach verloren geht, wenn Zelluloid verschwindet.