Tokio im Morgenlicht

Ab heute wird in Köln die äußerst sehenswerte Retrospektive „Art Theatre Guild: Unabhängiges Japanisches Kino von 1962 bis 1984“ gezeigt

Der Produzent Kuzui Kinshiro wurde von der Staatssicherheit verhört

von CRISTINA NORD

Herumlungern kann man überall auf der Welt. An eine Wand gelehnt, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt, ein Knie angewinkelt, die Hände in den Hosentaschen. So stehen die Jungs aus Fassbinders „Katzelmacher“ vor der grauen Hauswand in der Münchner Vorstadt. So warten Jean Paul Belmondo und Michael Caine, auf dass etwas geschieht. Und so posiert Oda Akira als rebellischer Yakuza Tetsuo, nachdem es ihn und seine Begleiterin Isako (Enami Kyoko) in einen Weiler am Meer verschlagen hat. Die Brandung rollt so lange donnernd an den Strand, bis man weiß: Hier steht die Zeit still. Aber die Zigarette sieht gut aus in Tetsuos Gesicht, und seine Anzughose sitzt so eng, dass sie Hintern und Hüften hübsch modelliert. Wem so viel Coolness im Leib steckt, dem darf die Sonnenbrille im Gesicht nicht fehlen.

Tetsuo ist eine Figur aus „Tsugaru jongara-bushi“ („Die Weise der Jongara-Shamisen von Tsugaru“), einem Film aus dem Jahr 1973. Gedreht hat ihn der Regisseur Saito Koichi, produziert die Art Theatre Guild (ATG), eine unabhängige japanische Produktionsgesellschaft. 1961 wurde sie ins Leben gerufen, zunächst als Verleih ausländischer Autorenfilme. Bald schon betrieb sie mehrere Kinos, deren wichtigstes das Shinjuku Bunka in Tokio war. Ihr größtes Verdienst aber war es, dafür zu sorgen, dass unabhängiges, experimentierfreudiges, vom Geist der Nouvelle Vague inspiriertes Kino in Japan entstehen konnte. Bis 1984 war ATG aktiv. Ihrem Wirken gilt nun eine Retrospektive, die in dieser Breite zum ersten Mal außerhalb Japans zu sehen ist. Im Oktober gastierte sie anlässlich der Viennale und der Neueröffnung des Filmmuseums in Wien; ab heute macht sie im Japanischen Kulturinstitut in Köln Station; ab Dezember wird sie auch im Berliner Arsenal-Kino zu sehen sein.

Auf einen gemeinsamen Nenner lassen sich die ATG-Filme kaum bringen: Genrevariationen zählten ebenso dazu wie Undergroundfilme, politisch radikalisiertes Kino ebenso wie Sexploitation, filmische Auseinandersetzungen mit klassischen Theaterformen ebenso wie die Buddhismus-Reflexion „Mujo“ („Flüchtiges Leben“, 1971) von Jissoji Akio: ein atemberaubend fotografierter Film, der unter anderem dadurch überrascht, dass der Blick des Protagonisten wie bei einer Röntgenaufnahme durch die anderen Figuren hindurchgehen kann. Mit dem Unterschied, dass ihm nicht das Körperinnere, sondern die zukünftige Leiche seines Gegenübers erscheint. Über Japan hinaus erlangten nur wenige der ATG-Regisseure Bekanntheit. Zu ihnen gehört zweifellos Oshima Nagisa, dessen frühe Arbeiten „Koshikei“ („Tod durch Erhängen“, 1968) und „Gishiki“ („Die Zeremonie“, 1971) in Zusammenarbeit mit ATG entstanden.

Die Körperlichkeit der Figuren ist nicht die einzige Gemeinsamkeit, die die ATG-Produktionen mit anderen kinematografischen Erneuerungsbewegungen der Sechzigerjahre teilen. Wie ihre Pendants in Hollywood befanden sich die japanischen Studios damals in einer kritischen Lage. Mochten bei internationalen Festivals auch einige Filme reüssieren, so bestand der größere Teil der Produktion aus Massenware, und durch das Fernsehen sank die Zahl der Kinobesucher. Dem Regisseur kam eine untergeordnete Position zu, von künstlerischer Entscheidungsfreiheit konnte er nur träumen. ATG bot den von diesen Zuständen Entmutigten eine Nische.

Ähnlich wie in Paris, wo die Auseinandersetzungen um die von Henri Langlois geleitete Cinématheque Française in den politischen Kampf übergingen, kam es auch in Tokio zu Kurzschlüssen zwischen Kino und Politik. Während der Dreharbeiten zu „Tenshi no kokotsu“ („Ekstase der Engel“, 1972), einem Film über eine Terrorgruppe, explodierte eine Bombe nur hundert Meter von einem der ATG-Kinos entfernt. Sofort kursierten Gerüchte, dass die Attentäter Zuflucht in dem Kino gefunden hätten. In der Folge wurde ATG harsch angegriffen. Der Produzent Kuzui Kinshiro erinnert sich: „Ich wurde mehrmals von der Polizei und der Staatsicherheit verhört. Die Gewerkschaft der Kinobetreiber und die lokale Händlervereinigung übten ebenfalls Druck aus. Die anderen ATG-Kinos beugten sich dem, sodass der Film letztlich nur im Shinjuku Bunka gezeigt wurde. Für mich war klar, dass ich den Film zeigen musste. Schließlich hatte ich dem Filmemacher mein Wort gegeben, und ich war bereit, es einzuhalten, koste es, was es wolle. Es gab Drohungen der Rechten, doch solange dem Publikum nichts passierte, war mir alles andere egal.“

Das Shinjuku Bunka lag im Tokioter Shinjuku-Distrikt, dem damaligen Zentrum des jugendlichen Aufstands. „Auf dem Bahnhofsvorplatz“, schreibt der Filmhistoriker Yomota Inuhiko, „lungerten futenzoku (Hippies) aus ganz Japan herum. Sie waren obdachlos und hungrig, sie schliefen auf dem Gras und sangen ihre Lieder. Im Café Fugetsudo trafen selbst ernannte Künstler mit langen Haaren und Bärten auf linke Aktivisten und auf amerikanische Soldaten, die gegen den Vietnamkrieg waren.“

Performances und Demonstrationen gehörten zum Alltag und schlugen sich in den ATG-Filmen nieder, zum Beispiel in „Bara no soretsu“ („Begräbnis der Rosen“, 1969) von Matsumoto Toshio. Es ist der erste in Japan gedrehte Schwulenfilm, und er spielt in der schwulen Subkultur Shinjukus. Die Diskussionen, die der Film nach sich zog, erinnern durchaus an die hiesigen Debatten um Haupt- und Nebenwidersprüche: Viele Leute seien wegen des Sujets irritiert gewesen, notiert der Filmemacher. „Einige werfen mir vor, ich würde mich in dramatischen politischen Zeiten vor der Realität drücken wollen. Das bedeutet zunächst einmal, dass sie nicht verstehen, welcher Zusammenhang zwischen dem Thema Schwulsein und dieser politischen Realität besteht. Aber warum erregt die Begegnung mit Unverständlichem, Ungewöhnlichem, Fremdem nicht auch bei ihnen ein Gefühl brennender Neugier?“

„Bara no soretsu“ eröffnet heute Abend in Köln die Filmreihe „Art Theatre Guild: Unabhängiges Japanisches Kino von 1962 bis 1984“. Information unter www.jki.de/movie.htm