Worüber man nichts wissen kann, darüber muss man schweigen

Ohne Tapferkeit und Fassung: Patrice Chéreaus „Sein Bruder“ ist ein Film über die letzte menschliche Intimität, das Sterben

von BIRGIT GLOMBITZA

Ein nebensächlicher Stoß, ein unglücklicher Kratzer reichen schon. Und Thomas (Bruno Todeschini), dessen Blut nicht mehr gerinnen kann, wird verbluten. Innerlich oder äußerlich. Sein Körper ist für die Erschütterungen des Lebens nicht mehr gewappnet, egal aus welcher Richtung sie kommen. Und der Verstand, der das eigene Verschwinden und den Tod nicht denken kann, reibt sich wund an dem Paradox der menschlichen Existenz. Thomas stirbt nicht mit der überlegenen Geste eines Märtyrers, sein Ableben lässt keine strahlenden Ideologien zurück. Es steht nur für sich selbst, für eine Biografie, von der wir kaum mehr erfahren, als dass sie gerade zu Ende geht. Er stirbt langsam, Tag für Tag ein bisschen mehr. Ohne Fassung und ohne diese viel beschriebene Tapferkeit, Weisheit und Größe der letzten Stunden. Eher klein, verzweifelt, in Panik vor der großen schwarzen Einsamkeit.

Nach „Intimacy“, für den Patrice Chéreau 2002 den Goldenen Bären erhielt, konnte es kaum eine konsequentere Fortsetzung über den Körper und seine Grenzüberschreitungen geben. Nach fraglosem Begehren, der Lust am Anonymen und ihren Regelverletzungen setzt der Opern- und Filmregisseur Chéreau die Geschichte von Beziehungslosigkeiten, vom Körper, seinen Sehnsüchten, seinen Mängeln hier fort. „Sein Bruder“ ist ein Film über die letzte menschliche Intimität, das Sterben. Und dabei nimmt er sich in vielem wie eine komplementäre Betrachtung zum Vorgänger aus. Verlief der Alltag in „Intimacy“ im unauffälligem Licht der Gewohnheiten, wirkt er in „Sein Bruder“ verdunkelt und abgedämpft. Modellierte Chéreau die Nacktheit der Liebenden aus den harten Kontrasten eines übergangslosen Hell-Dunkel, gehen die Konturen des bleichen Leibes in „Sein Bruder“ über in die Töne des Krankenhaus-Weiß. Zerteilte die Kamera in „Intimacy“ die Körper wie der Blick des Begehrens in einzelne Teile, präsentiert Chéreau den nackten Thomas in seiner versehrten Ganzheit. Und statt einer perspektivischen, rollenempathischen Kamera verlegt sich Chéreau in „Sein Bruder“ zunehmend aufs Dokumentarische. Die Sequenzen im Krankenaus drehte er zudem in einem realen Hospital und mit realem Pflegepersonal. Dass das trotz aller Distanz ungeheuer berührend und würdevoll zugleich ausfallen kann, zeigt die zentrale Szene, in der die Pflegerinnen Thomas für eine Milzoperation präperieren. Sorgfältig entkleiden sie den Patienten, entfernen seine Bauch- und Schamhaare. Man hört das Kratzen und Schaben, manchmal auch den Atem der Schwestern. Ein präzises, ruhiges Ritual in langer Echtzeit, bei dem man sich unweigerlich an barocke Vergänglichkeitsszenarien oder auch an die Waschung Christi erinnert.

„Sein Bruder“ ist auch ein Film über aufgeschobene Trennungen und durch die ablaufende Zeit beschleunigte Wiedervereinigungen. Ein Liebespaar, Claire (Nathalie Boutefeu) und Thomas, verliert sich. Immer seltener sind sie in einer Einstellung zusammengefasst. Claire verschwindet als Schattenriss aus Fürsorge, Abschiedsschmerz und Erschöpfung. Ein Bruderpaar, Thomas und Luc (Eric Caravaca), findet sich wieder. Nach langer gegenseitiger Ignoranz führt Thomas’ Krankheit die beiden, die außer ihrer Kindheit nicht viel miteinander teilen und noch weniger voneinander wissen, wieder aufeinander zu. Ein Wechselspiel aus vergessener Nähe und gewohnter Distanz. Bis Luc, erst unwirsch, dann liebevoll, zu Thomas’ Sterbebegleiter wird.

Der Tod ist – so platt, so grundsätzlich – immer nur eine Frage der Zeit. Bei Chéreau wird er zudem eine des Raums und der Subjekte, die sich in ihm bewegen. Der Platz schwindet dabei zusehends, Aktionen brechen ab. Auch der Geschlechtsakt von Luc und seinem Freund bekommt etwas Regungsloses. Vor die Ausblicke auf Stadt und Meer schieben sich die Wände des Krankenzimmers. Spaziergänge enden im plötzlichen Stillstand. Dann sitzen, warten, starren auf die Pflegeverrichtungen der Krankenschwestern, auf lebenserhaltende Maschinen, auf Dränagen, die Blut und Urin umleiten, auf das langsame Auf und Ab eines abgemagerten Torsos. So ein Mensch, das ist nicht viel. Und doch behauptet der Film an keiner Stelle die Prozesse des Werdens und Vergehens enträtselt zu haben.

Chéreaus Wirklichkeit ist von karger Ausstattung. In ihr gibt es nur das, was man sieht. In den Gesichtern, auf den Anzeigen der Geräte. Resignation und Routine. Sein Film schweigt über das, was er nicht weiß. Kein Tunnel, kein Licht. Bei ihm lässt sich der Tod nicht über die Schulter gucken. Das Leben an seinen Schwachstellen schon.