„Lass den Blödmann mal machen“

Als verrückter Deutscher in amerikanischen Schallplattenarchiven: Ein Gespräch mit Richard Weize, dem Macher von Bear Family Records, über den Weg von Bill Haley zur Country-Musik, den Heimatbegriff im deutschen Schlager, die Zukunft der CD und die Freude an der Entdeckung von Unbekanntem

Interview TOBIAS RAPP

taz: Herr Weize, was war Ihre erste Schallplatte?

Richard Weize: Das war so: Als ich zehn Jahre alt war, da hatten Freunde von mir „Rock Around The Clock“ von Bill Haley als Single. Da bin ich in den Plattenladen gegangen und habe gesagt, ich will diesen Titel haben. Den hatten die aber nicht, sondern nur eine Platte namens „R-O-C-K“. Der Platte bin ich dann verfallen. Aber dabei blieb es natürlich nicht. Ich wollte wissen, was sonst noch so passiert.

In den frühen Sechzigern haben Sie angefangen, Countryplatten zu importieren. War das ein weiter Weg von Bill Haley zur Country-Musik?

Ich hatte einen Freund, der mich eines Tages fragte, ob ich eigentlich Jim Reeves und Don Gibson kennen würde. Nee, sage ich, wer ist das. Ja, sagt der, sein Bruder hätte so ein Plastik-Album voll mit deren Singles. Da seien die dabei. Ich hatte von denen noch nie gehört, also fragte ich ihn, ob er mir das Album mal mitbringen könnte. Der machte das, ich hörte mir das an, und das faszinierte mich. Da gab es von Jim Reeves „The Blizzard“, so eine John-Maynard-Geschichte, bloß in die Prärie verlegt, und von Don Gibson war da „O Lonesome Me“. Also fing ich an, mich damit zu befassen. Der Rock ’n’ Roll wurde in den frühen Sechzigern ja auch immer flacher. Meine Mutter hatte einen Buchladen, und so hab ich dann angefangen, mit dem Briefkopf dieses Ladens in Amerika Platten zu bestellen. So bekam ich Großhandelspreise für mich und meine Freunde.

Heute stehen uns ja diese gigantischen Archive zur Verfügung, fast alles ist mittlerweile wiederveröffentlicht worden. Und wenn man ein Stück nicht im Laden kriegen kann, dann findet man es bestimmt irgendwo im Internet. Es ist nur noch schwer vorstellbar, dass damals eine Platte, die ausverkauft war, einfach weg war.

Ja, die war dann weg. Die musste man dann suchen, das hat ja auch Spaß gemacht. Das Problem heute ist, dass so viel Musik da ist, dass es sehr schwer geworden ist zu differenzieren. Als ich jung war, da wurde im Rundfunk kein Pop gespielt. Da gab es Chris Howland, das war eine Stunde pro Woche, und das war’s dann. Am Sonntag gab es beim NDR noch „Melodie und Rhythmus“. Wenn da „Rock Around The Clock“ lief, dann war das aber meistens nicht die Bill-Haley-Platte sondern ein Orchester, das das nachspielte. Neulich hab ich mal den Günter Fuhlisch kennen gelernt, das war der Leiter eines dieser Orchester, und ich hab zu dem gesagt, Herr Fuhlisch, nett Sie zu treffen, in meiner Jugend habe ich Sie gehasst wie die Pest, weil Sie mir immer meine guten Titel versaut haben. Konnte er gut verstehen.

Man war sich der Musik sehr bewusst. Wenn man sich eine Single kaufte und die Rückseite war nicht gut, dann wurde diese Rückseite jeden Tag noch mal geprüft, ob die wirklich so schlecht war, wie man sie in Erinnerung hatte. So ist das heute natürlich nicht mehr. Dafür gibt es zu viel. Dazu habe ich natürlich auch beigetragen dadurch, dass ich so viele Sachen rausgebracht habe.

Sie waren einer der Ersten, der unveröffentlichte und vergriffene Sachen wieder herausgebracht hat. Wie sind Sie darauf gekommen?

Es gab in den späten Sechzigern und in den frühen Siebzigern diese Bootleg-Szene, wo Musik im weitesten Sinne illegal veröffentlicht wurde. Das gab es auf ganz kleiner Ebene, es gab aber auch Leute, die machten das ein bisschen besser. Bob Dylan zum Beispiel ist nur durch diese Bootlegs zu der Legende geworden, die er jetzt ist. Ich machte meinen Plattenversand und hatte mit diesen Leute auch zu tun. Und irgendwann, ich glaube 1978, da bekomme ich von einer kleinen amerikanischen Firma eine Platte von den Stanley Brothers auf den Tisch, die war lizensiert von Columbia Records. Bis dahin war schlicht und einfach niemand auf die Idee gekommen, dass man auch bei der Plattenfirma nachfragen und Stücke lizensieren könnte.

3.000 Stück hatten die Amerikaner von dieser Platte gepresst, das war wahnsinnig viel. Ich sah die Platte, wurde fast verrückt und dachte mir, was die können, das kann ich auch. Also habe ich einen Bekannten bei der CBS angerufen und nachgefragt. Ich wollte eine Platte mit unveröffentlichten Johnny-Cash-Aufnahmen machen. Einfach um die in meinem Versand zu haben, damit ich eine Platte habe, die sonst keiner hat, damit die Leute bei mir kaufen. Aber die 3.000 LPs, die ich pressen musste, das war eine Rechnung von 20.000 Mark, und die hatte ich nicht. Also habe ich dann alle Händler angerufen, die ich kannte, und als die LPs geliefert wurden, hatte ich die ganzen Platten schon verkauft. Damit ging es los.

Werden Sie in den USA eigentlich manchmal schräg angeschaut, wenn Sie da auftauchen und nach raren Country-Aufnahmen suchen?

Ich war 1982 zum ersten Mal in Amerika. Klar gab es da immer gewisse Rivalitäten zwischen deren Veröffentlichungen und meinen. Spätestens, wenn meine Platten in den USA auftauchten, obwohl sie nur für Europa lizensiert waren. Aber mittlerweile werde ich da als Blödmann akzeptiert, der nicht viel verkauft, sondern seinen Ideen nachgeht. Die lassen mich einfach machen. Das muss aber nicht so bleiben, weil ja im Moment niemand ernsthaft Platten verkaufen kann. Möglich, dass die sich demnächst sagen: Das was der, der nicht verkauft, das wollen wir auch noch nicht verkaufen.

Das heißt, dass auch ein Nischenlabel wie Bear Family vom Rückgang der Plattenverkäufe betroffen ist?

Indirekt. Uns macht zu schaffen, dass die Plattenläden nicht mehr ordern. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Geschäft heute hauptsächlich über die großen Ketten abgewickelt wird. Da sitzt ein Einkäufer in Ingolstadt, der für ganz Deutschland entscheidet: Jetzt gibt es einen Einkaufsstopp. Unabhängig davon, ob das nun in der Hamburger Filiale gerechtfertigt ist und in der Lübecker Filiale nicht.

Ist das für ein Label wie Bear Family eigentlich eine Perspektive, die Musik irgendwann als Download auf der eigenen Homepage anzubieten?

Nein, das glaube ich nicht.

Aber die Tage der CD sind doch gezählt.

Ja, die sind gezählt. Aber Sammler wollen etwas in der Hand halten. Der Allgemeinverbraucher wird sich schon bald die Musik nur noch herunterladen, und wenn er sie nicht mehr haben will, dann schmeißt er sie wieder weg. Die anderen kommen dann zu uns. Die wirklich wichtige Frage ist, ob die Leute das irgendwann vielleicht nicht mehr wollen. Ob die noch in der Lage sind, so was zu wollen. Ob die Leute noch lesen können und wollen. Das Sammlerpublikum stirbt langsam weg, und es kommen nicht genug Leute nach.

Bear Family hat ja ein breit gefächertes Programm: von Country und Rock ’n’ Roll über die lange Geschichte des politischen Liedes in den USA bis zu deutschem Schlager. Wie definieren Sie für sich Qualität?

Ich habe in den Fünfziger- und Sechzigerjahren natürlich nie Schlagerplatten gekauft. Mir reichte es schon, das mithören zu müssen. Abgesehen von Ted Herold. Das war der einzige wirkliche Rocker, den es in Deutschland gab. 1979 wollte ich also eine Ted-Herold-Platte machen. Dann fingen alle an herumzunerven, ich solle doch noch was rausbringen – also habe ich eine Peter-Krauss-Platte gemacht. Obwohl zwischen den beiden Welten liegen. Dann haben mich die Leute weitergenervt, und irgendwann war ich dann breitgeschlagen und machte noch mehr Schlager. Irgendwie machte das ja auch Spaß, in der Retrospektive.

Die dicken CD-Boxen mit deutschem Schlager dokumentieren ja auch Zeitgeschichte.

Eben. Was man oft vergisst, wenn man heute an die Fünfziger denkt, sind ja die vielen Flüchtlinge. Diese Flüchtlinge hatten ja nur eins im Kopf, die wollten wieder nach Hause. Schlesien, Ostpreußen, Sudetenland, wo die auch immer herkamen. Ich habe mal ein Interview mit Lothar Olias gemacht, kurz vor seinem Tod. Das war einer der wichtigsten Schlagerkomponisten der Fünfziger und frühen Sechziger, der Entdecker von Freddy Quinn. Und der Olias sagte zu mir, wissen Sie, das war so: Ich war Flüchtling, kam aus Ostpreußen, und das Geheimnis von Freddys Erfolg war, dass wir alles auf Heimat aufgebaut haben. Ich versuchte, immer die Flüchtlinge zu erreichen. Das waren ja Millionen von Leuten. Darauf habe ich mir dann diesen ganzen Freddy noch mal angeguckt. Und tatsächlich, alles, was der gemacht hat, lief auf dieser Schiene. Das ist interessant, so etwas zu veröffentlichen, so eine Zeit darzustellen.

Spüren Sie noch immer diese Aufregung, wenn es daran geht, etwas Neues zu entdecken?

Ja klar. Deswegen mache ich das doch überhaupt. Bei Country oder Rock ’n’ Roll weiß ich ja fast alles, und für das, was ich nicht weiß, kenne ich die Wege, um es herauszubekommen. Wenn ich jetzt aber eine Calypso-Platte mache oder die Box mit „Songs For Political Action“, dann ist das nicht so. Und ich bin sehr genau. Ich will mir ja von niemandem vorwerfen lassen können, dass ich keine Ahnung hätte. Insbesondere nicht von denen, die mehr Ahnung haben als ich. Aber es kommt noch etwas hinzu: Ich habe vor einiger Zeit mal ein Interview mit Steven Spielberg gelesen, wo er sagt: I relive my past. Das ist bei mir auch so. Ich mache vieles, was ich früher gut fand.