Vorbilder, auf Wiedersehen

Der Kanzler und seine Wirtschaftspolitiker glauben an ihre Macht und übersehen ihre eigene ökonomische Ohnmacht – darum schlägt jetzt die Stunde von Keynes

Das Blatt ist ausgereizt, Hollands Wirtschaft lahmt genau wie die des dicken Nachbarn

Der Medienkanzler sonnt sich gern in seiner Macht. Aber Schröder macht nicht nur Staat, er macht auch Wirtschaft. Hier das 37. Hartz-Programm, dort eine Lockerung beim erst kürzlich verschärften Kündigungsschutz, und selbst die Rentenkürzung 2004 muss sein, um die Lohnnebenkosten in den Griff zu bekommen – was wiederum die Wirtschaft ankurbelt. So weit die Kanzlertheorie. Ansonsten darf es mal pro-, mal antizyklisch sein, aber in jedem Fall hat die Politik die Konjunktur gut im Griff. An das Primat der Politik glaubten bereits die Kanzlervorgänger, von Konrad Adenauer über Helmut Schmidt – den allemal – bis zu Kohl und seinen „blühenden Landschaften“. Auch in anderen Ländern wird fleißig die Wirtschaft politisch angekurbelt, etwa in Frankreich oder beim neuen Erzfeind, den USA.

Aber die herrschende Politik hilft dem Kapitalismus bestenfalls kurzfristig auf die Sprünge. Zwei selbst hierzulande kaum zu übersehende Fakten hätten die Allmachtfantasien der Politiker längst dämpfen müssen. Bislang tat dies jedoch nur der letzte Wahlkampf, als die globale Großwetterlage – zu Recht – als Entschuldigung für andauernde Schlechtwettermeldungen aus Arbeit und Wirtschaft herhalten musste. Die zwei Fakten, die unseren amtlichen Reformern zu denken geben müssten, sind eben die bereits genannten blühenden Landschaften, die trotz hunderten von Milliarden Euro, die aus der Staatskasse gen Osten flossen, einfach nur verdorrten.

Der andere Nachdenklichkeitsfaktor startete 1982 mit der Kanzlerschaft Kohls. Seither – trotz gelegentlichen Zickzackkurses – wird die neoliberale Sau durchs globale deutsche Dorf gejagt. Doch offenkundig hat dies weder die Rezession noch die dicksten Trauerränder um die Arbeitslosenstatistik seit den Dreißigerjahren verhindern können. An diesen Dilemmata sei jedoch nicht die zwei Jahrzehnte dauernde neoliberale Offensive schuld, beteuern Schröder, Merkel, Scheel und ihre Anhänger, nein, die Einschnitte in das Fleisch des Rheinischen Kapitalismus, der sozialen Marktwirtschaft, seien einfach noch nicht tief genug.

Dies soll sich nun bekanntlich ändern, aber die Agenden 2010 und folgende könnten uns in die Irre führen, denn bislang entpuppten sich alle Vorbilder bald als Auslaufmodelle. Bereits mit dem Ende des Nachkriegswirtschaftswunders hatte hierzulande die Konjunktur der politischen Vorbilder begonnen. Bis Ende der Achtziger galt es, von Japan siegen zu lernen. Was allerdings immer schon ein wenig heikel war, da unübersehbar staatliche Regulierungen – denken wir an das allmächtige Wirtschaftsministerium Miti – zu den Weltmarkterfolgen beitrugen. Seit über einem Jahrzehnt stagniert Nippon nun trostlos vor sich hin, weil das ordinäre Platzen einer Spekulationsbasis am Immobilienmarkt Kredite, Banken und Industrie in dauernde Stagnation und Deflation versetzte. Es begann die Vorbildepoche der Tigerstaaten, bis deren Wirtschaft 1997/98 von der asiatischen Finanzkrise hinweggefegt wurde. Daraufhin erklang der Startschuss für die Vorbildkarriere der USA. Auch davon ist unter Kennern keine Rede mehr, seit die Inflation rast, der Staatshaushalt mit 5 Prozent im Minus sogar schlechter als der bundesdeutsche (4 Prozent) dasteht und die US-Schulden im Ausland, mit denen immer mehr Importe auf Pump gekauft werden, faktisch nicht mehr rückzahlbar sind, weil dafür längst zu hoch. Dass die Armut selbst während des amerikanischen Booms weiterwuchs und für den normalen Working Poor eine einzige Arbeitsstelle nicht zum Leben reicht, wurde ohnehin gern übersehen.

An die frei gewordene Stelle traten jeweils andere Vorbilder. Neuseeland, Australien, Dänemark und, bis heute im Ausland gern gelobt, die Niederlande. Nach einem Feuerwerk der Begeisterung für Wirtschaftspolitik und Wirtschaftspolitiker, weil sie die Staatsausgaben zusammenstrichen, hat sich der Nebel über dem Poldermodell mittlerweile gelegt. Die Wachstumserfolge beruhten vorrangig auf einer erheblichen realen Abwertung des Gulden, die Holland zunächst in die Euro-Ära hinüberretten konnte. Währungsdumping ist eine populäre Strategie, die zwar in einzelnen Ländern, aber nicht in der Gesamtheit der Volkswirtschaften erfolgreich sein kann, denn der Exportgewinn des einen ist der Importverlust des anderen.

Für die Niederlande und andere Kleine war diese Strategie von besonderem Erfolg gekrönt, da rund die Hälfte des Inlandsprodukts ausgeführt wird. In Deutschland ist dies ein Drittel. Zudem basiert die offizielle arbeitsmarktpolitische Erfolgsbilanz auf der Umverteilung der ohnehin vorhandenen Arbeit, nämlich durch die löbliche Förderung von Teilzeitbeschäftigung und mittels vorzeitiger Pensionierungen und ein paar anderer Bilanztricks. Aber auch dieses Blatt ist inzwischen ausgereizt, und Hollands Wirtschaft und Gesellschaft lahmen kaum weniger als die des dicken Nachbarn.

Alle Vorbilder waren mehr oder weniger neoliberal inspiriert. Ob die Alternativen von Keynes bis zur Memorandumsgruppe, deren Konzepte immerhin noch Wert auf die ganze Gesellschaft legen, mehr und vor allem mittelfristig Erfolg hätten, wenn man sie mal richtig ließe, muss bislang mangels eines Praxistests offen bleiben. Es ist zu befürchten, dass sich der Kapitalismus so oder so auch durch Kanzler Schröder nicht austricksen lassen wird. Hierzulande wird es, allen Agenden zum Trotz, auch zukünftig geradezu gesetzmäßig an Arbeitsplätzen mangeln, da die kaufkräftige Binnennachfrage stagniert, jede konjunkturelle Erholung von der technischen Entwicklung aufgefressen wird und sich das Kapital notgedrungen aus den stagnierenden Exindustriestaaten räumlich nach China und Asien verabschiedet. Ich kenne keinen ernst zu nehmenden Ökonomen oder Politiker, der wirklich noch unterstellt, Deutschland würde – mit oder ohne Strukturreformen à la Hartz – jemals wieder nennenswert weniger als vier Millionen offizielle Arbeitslose beherbergen. Zugleich reißt die Kluft zwischen Arm und Reich weiter auf. Zu diesen globalen Trends in Wirtschaft und Gesellschaft gesellt sich ein deutscher Staat, dessen Schulden ebenso unbezahlbar sind wie das Leistungsbilanzdefizit der USA. Jeder fünfte Steuer-Euro des Bundes muss bereits für Zinsen verschleudert werden, an Banken und Wohlhabende. An eine Tilgung der Altschulden von 1.311 Milliarden Euro ist ohnehin nicht zu denken.

Aber die herrschende Politik hilft dem Kapitalismus bestenfalls kurzfristig auf die Sprünge

Mit Glück und Geschick kann die Politik vielleicht verhindern, dass aus den fortlaufenden Krisen Katastrophen werden. Uns aus dem Elend erlösen können – frei nach Marx – Vorbilder jedoch nicht. Spätestens wenn das „soziale“ an der Marktwirtschaft ganz gestrichen ist, werden wir wissen, dass Wachstum, Beschäftigung und Staatsverschuldung immer noch im Argen liegen. Spätestens dann könnte die Stunde der Keynesianer schlagen – oder die Idee des Sozialismus wird wieder en vogue.

HERMANNUS PFEIFFER