Komplizierte Erinnerungsarbeit

Drei Generationen von Autoren und Filmemachern beschäftigen sich inzwischen mit den Wandgemälden des von den Nazis ermordeten polnischen Künstlers Bruno Schulz. Diese waren 2001 von Experten der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem vom Putz gelöst und nach Israel geschafft worden

von JAN BRANDT

Am Anfang war es eine Detektivgeschichte, die Suche nach den verschwundenen Wandbildern des polnisch-jüdischen Grafikers und Schriftstellers Bruno Schulz. In einem Ausstellungskatalog von 1992 fand der Autor Christian Geissler einen Hinweis: „Es gibt Werke von Schulz, die unter ungewöhnlichen Umständen während der deutschen Nazibesatzung in Drohobycz entstanden.“ Mit seinem Sohn, dem Dokumentarfilmer Benjamin Geissler, reiste er 2001 ins ukrainische Drohobycz, wo Schulz bis 1942 gelebt und gewirkt hatte. Dort hatten die Nazis von ihm verlangt, Fresken anzufertigen, Märchenbilder von Königen, Flötespielern, Hofnarren und Zwergen. Er zeichnete um sein Leben. Bis er der Rivalität von zwei SS-Offizieren zum Opfer fiel.

Nachdem die Geisslers die Reste der mehrfach übermalten Bilder in der Speisekammer einer Villa aufgespürt und ihre Entdeckung publik gemacht hatten, weitete sich die Geschichte zu einer Staatsaffäre aus. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion lösten drei Experten der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem einen Teil der Gemälde vom Putz und schafften die Fragmente nach Israel. Polnische Zeitungen sprachen von „Kunstraub“, und ukrainische Kulturinstitutionen schalteten die Staatsanwaltschaft ein. Jad Vaschem sieht sich auf der Website der Organisation als rechtmäßiger, moralischer Erbe jüdischen Kulturguts: „Bruno Schulz war ein jüdischer Künstler, der von einem SS-Offizier nur deshalb umgebracht wurde, weil er Jude war. Der richtige Ort für diese Malereien ist Jad Vaschem, die Instanz zur Erinnerung der Märtyrer und Helden des Holocaust.“ Daraufhin entbrannte ein bis heute nicht beigelegter Streit um die Frage, wem das jüdische Erbe gehöre. „Die Überlebenden haben für mich einen Sonderstatus“, sagt Christian Geissler, „und es steht ihnen zu, die Zeugnisse der Schoah zu sammeln.“ Im Gegensatz zu seinem Sohn billigt er die illegale Entwendung der Bilder. Die unterschiedliche Reaktion lässt sich vielleicht aus dem Generationszusammenhang erklären. Christian Geissler wurde 1928 geboren und gehört der „Flakhelfergeneration“ an. Sein Vater war bekennendes NSDAP-und SA-Mitglied, seine Mutter Antifaschistin. Anfang der Sechzigerjahre veröffentlichte Geissler den Roman „Anfrage“, in dem er sich mit der Schuld der Eltern am Nationalsozialismus und ihrem Schweigen danach auseinander setzte. Benjamin Geissler, Jahrgang 1964, findet nicht, dass die Bilder im neuen Historischen Museum von Jerusalem gut aufgehoben sind. „In Drohobycz wissen viele junge Bewohner nicht, was sich vor mehr als 60 Jahren ereignet hat. Da ist ein Museum notwendig und viel sinnvoller als in Israel.“ Sein poetischer Dokumentarfilm „Bilder finden“ soll einen Beitrag dazu leisten, die aus der Wand geschlagenen Fresken zurückzuholen und in Drohobycz eine Bruno-Schulz-Begegnungsstätte einzurichten. An die Regierungen der Ukraine, Polen, Israel, Österreich und Deutschland hat er zudem appelliert, in Drohobycz ein internationales Forschungszentrum aufzubauen. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs gehört auch Günter Grass. Kaum eine andere Region in Europa ist durch die beiden Weltkriege derart durcheinander geraten wie die Gegend um Drohobycz. Für Benjamin Geissler ein idealer Ort, um die verwickelte Geschichte des Landes und seiner Bevölkerung darzustellen: Die Stadt, in der Schulz 1892 geboren wurde, gehörte bis 1918 zu Österreich-Ungarn, fiel dann an Polen und wurde im Zweiten Weltkrieg wechselweise von deutschen und sowjetischen Truppen erobert.

Bruno Schulz war ein kleiner, zarter Mann, der als Kunst- und Handwerkslehrer am Gymnasium arbeitete und jede freie Minute nutzte, seiner Fantasie Ausdruck und Form zu geben. Seine Zeichnungen grotesk deformierter Kreaturen und nackter Mädchen, vor denen sich Männer mit leidenschaftlich entstelltem Gesicht auf dem Boden krümmen, sind stark vom Kubismus und Expressionismus beeinflusst. Von progressiven Kritikern als Vertreter der polnischen Avantgarde gefeiert, galt er in konservativen Kreisen als Provokateur und Darsteller von Pornografie und Gewalt. Erst 1933 debütierte Schulz als Autor. Die Erzählzyklen „Die Zimtläden“ (1934) und „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ (1937), inzwischen in 26 Sprachen übersetzt, machten ihn schlagartig berühmt. Ähnlich wie Franz Kafka, den er zusammen mit seiner Lebensgefährtin Józefina Szeliñska ins Polnische übertrug, entwirft Schulz apokalyptische Traumbilder, in denen sich biblische und klassische Mythen mit der jüdischen Erzähltradition vermischen. Die Gassen seiner Heimatstadt werden zum Labyrinth, Menschen verwandeln sich in Hunde oder Küchenschaben, Farben und Gerüche scheinen zu explodieren und das Ende der Welt anzukündigen. Am 11. September 1939 wurden seine Visionen Wirklichkeit. Die Sowjetunion annektierte den östlichen Teil Polens und ließ 1,5 Millionen Menschen nach Sibirien deportieren. Für die Kommunisten musste Schulz große Tafeln mit den Gesichtern von Marx, Lenin und Stalin malen, die am Rathaus angebracht wurden. Dann, am 3. Juli 1941, besetzten deutsche Truppen die Stadt. Die Juden wurden interniert, Zehntausende im Konzentrationslager Belzec oder im nahe gelegenen Wald von Bronica umgebracht.

„Referent für Judenfragen“ und örtlicher SS-Kommandant war der aus Wien stammende Tischler Felix Landau. Mit seiner Geliebten und zwei Kindern aus erster Ehe bezog er eine spitzgiebelige Villa der Sankt-Jan-Straße in der Nähe des Ghettos. Wenn er schlechte Laune hatte oder betrunken war, erschoss er vom Balkon aus jüdische Passanten. Einer von ihnen war ein Zahnarzt namens Löw, den der SS-Oberscharführer Karl Günther zu seinem „Hofjuden“ ernannt hatte. Als Landau hörte, dass es im Ghetto einen bedeutenden Künstler gebe, zwang er Schulz, das Spielzimmer seiner Kinder mit Märchenfiguren zu verzieren. Schulz hoffte, am Leben zu bleiben, solange er mit dem Auftrag beschäftigt war. Aber der Schutz, den Landau ihm in Aussicht stellte, wurde Schulz schließlich zum Verhängnis. Am 19. November 1942 ermordeten die Nazis in einer spontanen Strafaktion 230 Juden. Angeblich hatte ein jüdischer Apotheker einen SS-Mann angegriffen und verletzt. Für Karl Günther war das ein willkommener Anlass, sich an Landau zu rächen. Günther fing Schulz im Ghetto bei der Essenausgabe ab und streckte ihn mit zwei gezielten Kopfschüssen nieder.

Mit dem Tod von Schulz gingen auch zahlreiche Manuskripte und Skizzen verloren. Nur die Wandmalereien überdauerten unbemerkt den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Diktatur. Benjamin Geissler glaubt, dass es sich bei den Fresken um die Darstellung der Schoah handelt. Diese These versucht er in seinem Dokumentarfilm zu belegen, in dem er über die Gesichter der Märchenfiguren Fotos von Schulz, Landau und dessen Geliebte schiebt. Mit seinen Überblendungen, Textzitaten und unkonventionellen Schnitten ist „Bilder finden“ weit mehr als ein bloßes Abbild der Realität. Geissler will die entstandenen Lücken füllen, ebenso wie zwei vor kurzem erschienene literarische Umsetzungen des Themas. Christian Geissler brachte 2002 ein Buch mit dem Titel „In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz“ heraus. In diesem als „poetische Informationen“ bezeichneten Hörspielmanuskript verarbeitet er nicht nur die Suche, das Auffinden und erneute Verschwinden der Bilder, sondern widmet sich vor allem der Frage nach den Entstehungsbedingungen: Wer hat die Farbe gerührt, was ist geredet worden zwischen dem Maler und dem Kind, für das die Fresken bestimmt war?

Dem 1975 geborenen Autor Gernot Wolfram geht es in seiner Erzählung „Die Fresken“ um die Restauratoren von Jad Vaschem und deren Überzeugung, das jüdische Erbe „heimholen“ zu können, wie er sagt. Seit einem Vorabdruck in der Wochenendbeilage der SZ erhält Wolfram wütende Anrufe von Bruno-Schulz-Experten. Sie werfen ihm vor, Schulz zu benutzen, um Aufsehen zu erregen. Bei der Vorstellung seines Erzählbandes „Der Fremdländer“ in Berlin hat er „Die Fresken“ vorsichtshalber nicht gelesen. Trotzdem musste er sich die Frage gefallen lassen, warum er eine Geschichte über Bruno Schulz geschrieben habe. Wird ihm, da er der dritten Nachkriegsgeneration entstammt, nicht zugetraut, kompetent über die NS-Zeit und deren Folgen zu berichten? Oder liegt die kontroverse Rezeption darin begründet, dass in seinem Text Fiktion und Wirklichkeit auf ähnlich problematische Weise miteinander verschmelzen wie in Leander Scholz’ RAF-Roman „Rosenfest“?

Gernot Wolfram kann die ganze Aufregung nicht verstehen. „Daraus ist ein Politikum gemacht worden“, sagt er. „Das zeigt mir, mit wie viel Hysterie das Thema aufgeladen ist.“ Doch glaubte er wirklich, dass die Bearbeitung eines Themas, das für Schlagzeilen in aller Welt sorgte, lediglich auf den literarischen Gehalt hin wahrgenommen werden würde? Wolfram beruft sich auf seine künstlerische Freiheit. Er sagt, er habe „Figuren vor einem realen biografischen Hintergrund“ spiegeln und die Unmöglichkeit herausarbeiten wollen, „etwas aus seiner natürlichen Umgebung zu lösen, ohne gleichzeitig den historischen Kontext zu zerstören“.

Die Kritik, die Wolfram am Vorgehen der israelischen Restauratoren äußert, wird in der Erzählung aber nur an einer Stelle deutlich: Als den Leiter des Unternehmens beim Anblick der zerstörten Wände ein „Gefühl von Fremdheit“ befällt. Benjamin Geissler aber erklärt im Hörspiel seines Vaters unmissverständlich, dass für ihn der Diebstahl der Fresken einer zweiten Ermordung gleichkomme. Wirklich tot sei ein Dichter aber erst, schrieb der Autor Walter Mehring einmal, wenn seine Werke nicht mehr gedruckt werden. Die Erzählungen von Bruno Schulz sind in Deutschland vergriffen.

„Bilder finden“, R: Benjamin Geissler nach einer Idee von Christian Geissler, 107 Min; Christian Geissler: „In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz“,Edition Nautilus, Hamburg 2002, 6 €;„In den Zwillingsgassen des Bruno Schulz“, Hörspiel von Christian Geissler, am 4. 12. 2003, 21 Uhr, SWR2;Gernot Wolfram: „Der Fremdländer“, DVA, München 2003