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: „Nói Albinói“

Leck mich doch, man muss das doch nicht alles ernst nehmen. Wieso denn jeden Tag in die Schule? Nói, der Albino, 17, sitzt vorm Schulpsychologen. Und der will wissen: Wie oft masturbierst du täglich? – Antwort: Ist das jetzt eine professionelle oder eine persönliche Frage? Touché!

Die Szenen des Films lösen sich wie die einer Sitcom auf, doch gedreht sind sie vor Ort, im entlegenen Nordwesten der Insel Island. Berge, Gletscher, Dorfschule, und der Friedhof tiefgefroren. Drei Meter tief soll Nói den Boden aufhacken. Zwei Meter, bietet er dagegen. Der Deal mit dem Pastor: zwei Meter 30. Ende der Szene.

„Nói Albinói“ ist der erste Spielfilm des Isländers Dagur Kári, 30. Mit dem Abschlusskurzfilm an der dänischen Filmhochschule („Lost Weekend“) hat er gleich diverse Preise gewonnen. Aber ihm ist sofort zu glauben, dass er das Filmemachen, wie er erzählt, durch die Simpsons gelernt hat. Das Ergebnis ist eine grandiose, personenzentrierte Ambivalenz. Je mehr daneben, desto überraschender und wahrer sind die Typen. Am besten macht man sich darauf gefasst, dass jeder jederzeit eine Seite von sich rauslässt – aber hallo!

Selbstverständlich hat die Komik des Films gleichzeitig eine tragische Dimension, vor allem in der Schlusssequenz, die hier allerdings im Dunkeln gelassen werden muss, um die Superpointe nicht zu verderben. Überhaupt muss der Plot nicht erzählt werden oder so etwas wie die narrative Großdramaturgie. Dagegen sind die Akteure in „Nói Albinói“ ununterscheidbar gemischt unbekannte professionelle und private aus dem persönlichen Umfeld, die ihr Ding strophenweise performen. Vielleicht sollte man hier einfügen, dass der Regisseur mit seiner Zweimannband Slowblow selbst die Musik zum Film gemacht hat.

Es lebe das Nichtkorrekte, das als normaler Alltag daherkommt. Jedes Mal, wenn Nói die schöne Iris im Café besucht, schraubt er den Automaten auf und bringt die drei Icons auf die gleiche Position. Das Münzgeld reicht nicht. Er nimmt Omas Gewehr und überfällt die Dorfbank. Dort wird er rausgeschmissen, vor dem Eingang geht er auf und ab, überlegt. Dann ist er wieder drin und hebt das Geld vom Sparbuch ab. Einen Anzug kaufen. Und: ein Auto klauen. Und: Iris einpacken, wenn sie will. Will sie?

Was bleibt, sind die Bilder von den starken Losern. Familienidylle. Das jährliche Blutwurstkochen. Auf dem Sofa sitzt man zusammen wie bei uns zu Weihnachten. Keine Frage, dass Nói beim Umgießen der Fünflitertopf aus der Hand fällt. Es ist wie in einem Splatterfilm, und so daneben wünschen wir uns alle unser Top-Familienfest. Streichelei und Gewalt zur gleichen Zeit in der gleichen Szene und im gleichen Film, die grandiose Natur spielt mit: Dagur Kári hat einen gewaltigen menschenfreundlichen Film gemacht. Grandios im Ernst und viel Spaß denn auch.

DIETRICH KUHLBRODT

„Nói Albinói“. Regie: Dagur Kári. Mit Tómas Lemarquis, Tröstur Leó Gunnarsson u. a. Island 2003, 93 Min.