Sturzflug ins Glück

Die britischen Radiohead bewiesen im Berliner Velodrom, dass ihre Pinkfloydisierung weiter voranschreitet. Sie bewiesenaber auch, dass sie mörderisch grooven können und im Innersten von ihrer Rhythmusgruppe zusammengehalten werden

von ARNO FRANK

Es ist nicht leicht, Radiohead zu folgen. Während andere Gruppen, kaum dass sie ihre Reiseflughöhe erreicht haben, den Autopiloten einschalten und immer geradeaus fliegen, benahmen sich die Briten zuletzt wie betrunkene Kunstflieger. Von den Höhen ihres monolithisch gleißenden Gitarrenrock auf „OK Computer“ ging’s im Sturzflug hinab zum dunkel zergrübelten Elektrosound auf „Kid A“, dann mit einer engen Kehre zurück ins Licht sphärischer Klangflächen, um mit „Hail To The Thief“ den Looping gleichsam zu vollenden – kein Wunder, dass Thom Yorkes Kopf beim Singen oft hin und her fliegt wie der eines Jungen in der Achterbahn.

Die Fliehkräfte, die hier am Werk sind, bleiben sogar in der massiven Unterhaltungsarchitektur des kalten Velodroms in Berlin spürbar. Radiohead beginnen ihr Konzert vor ausverkauftem Haus mit „2+2=5“, dem stürmischen Opener ihres jüngsten Albums. In erfreulich sparsamer Lichtkulisse: Der Hintergrund der weitläufigen Bühne wird von neonhell wandernden Lichtimpulsen dominiert, die an die leuchtenden Laufschriften der Künstlerin Jenny Holzer erinnern. Damit nicht genug der Referenzen, werden die groben Pixel verwackelter Digitalkameras auf zwei Bildschirmbatterien übertragen – wo sie weniger Überblick als vielmehr ein gewisses „Blair Witch“-Feeling verbreiten. Wenn etwa auf der Bühne Songs wie „Myxomatosis“ durch den Zerhacker geschickt werden, dann flackern auch die Bilder. In störrische Schleifen werden sie gelegt, wenn kreiselnde Loops aus den Boxen schwingen. Dann zuckt Yorke wie ein Kraftwerk-Roboter. Oder wie ein paranoider Android.

Vielleicht ist es ja genau dieser Wille zur Kunst, den man Radiohead übelnehmen könnte: In einer Zeit, da zahllose „The“-Bands ihr Heil im Simplen finden, scheint es, als beschäftigten sich die ehemaligen Kunststudenten aus Oxford lieber mit Dekonstruktion und digitaler Doppelung. So gerne wir die Pinkfloydisierung von Radiohead für abgeschlossen erklären würden – der intellektuelle Überbau dieser Musik ist nichts als ein drolliges Ablenkungsmanöver von der eigentlichen Qualität dieser Band. Denn Radiohead grooven.

Nichts gegen elegisches Pianospiel, nichts gegen muskulöse E-Gitarrensoli oder badewannenwasserwarme Synthieflächen. Kein Sänger wie Thom Yorke in dieser Zeit, weit und breit – klar. Und kaum ein so halsbrecherischer Gitarrist wie Johnny Greenwood – gewiss. Aber es ist die stoische, verspielte, treibende, präzise und doch schlafwandlerische Rhythmusgruppe, die diese Band im Innersten zusammenhält. Was auf Platte vielleicht vielschichtig erscheint und analysiert werden will, das lässt uns hier und jetzt nur noch archaisch mit dem Arsch wackeln.

Es gibt zwar keine gereckten Fäuste, kein Abfeiern griffiger Refrains, kein Meer an Feuerzeugen. Aber eben auch nicht die kalte Komplexität, die der Gruppe gerne angekreidet wird. Statt dessen lässt sich die tektonische Spannung der Musik manchmal mit Händen greifen. Wenn etwa ein spartanisch subfrequentes Pumpen der Beats von vereinzelt knisternden Stromstößen aus der Gitarre unterbrochen wird, wenn zusammengezwungen werden soll, was nicht zusammengehört – dann kann man im Zwielicht beobachten, wie sich beim Vordermann unter der Wucht der akustischen Eindrücke die Nackenhaare aufstellen. Und ein heißkaltes Frösteln den eigenen Rücken hinunterrieselt. Weil hier ein Fenster aufgestoßen und für ein paar Herzschläge spürbar wird, was alles möglich sein könnte. Und sei es auch nur, damit man später in der klirrenden Kälte vor der Halle zum ersten Mal seit Jahren ein Bandposter kauft. Weil dieser Satz draufsteht: „I’d like to write a beautiful story about love“.