Aus dem Feuer der Schnapsbrennereien

Der niederländische Erfolgsautor Gert Maak erzählt spannend und recht locker vom „Jahrhundert seines Vaters“. Dabei verknüpft er auf faszinierende Weise den Lebensweg seiner Familie mit der rasanten Entwicklung der holländischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert

Der Lebensrhythmus war bar jeder Hast, als Catrinus Mak geboren wurde. Im Schiedam von 1899 gab es nicht nur ein großes Interesse an Geschwindigkeit und Fortschritt, sondern auch am Verweilen. Die Niederlande waren mit fünf Millionen Einwohnern noch fast menschenleer, drei Viertel lebten auf dem Land, die Familien waren kinderreich und die Kirchen voll; der Glaube war für die meisten kein theologisches Konstrukt, sondern tägliche, nicht hinterfragte Realität. Telefon oder Straßenbahn gab es kaum, die Leute orientierten sich an Entfernungen, die sie zu Fuß bewältigen konnten. Das 20. Jahrhundert sollte erst 1914 seinen Anfang nehmen, „die Kinderjahre meines Vaters waren also gleichzeitig die Grenzzone des 19. Jahrhunderts“, schreibt Geert Mak über die „Belle Epoque“, die dem Untergang geweiht war.

Mit „Das Jahrhundert meines Vaters“ hat der inzwischen auch in Deutschland bekannte Publizist eine Biografie der Niederlande vorgelegt, die als Chronik seiner eigenen Familie daherkommt: als Geschichte des 20. Jahrhunderts, die „durch die Hintertür in die Küche einer Durchschnittsfamilie hereinkommt“. Anhand von Tagebüchern, Zeitungsausschnitten und Briefen sowie Interviews und eigenen Erinnerungen rekonstruiert Geert Mak den Lebensweg seiner Familie – und verknüpft diesen Mikrokosmos mit dem Weg der Niederlande in die Moderne.

„Das Jahrhundert meines Vaters“, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, ging seit 1999 in Holland gut 500.000-mal über den Ladentisch. In Deutschland hat der ehemalige Zeitungsredakteur (De Groene Amsterdammer, NRC Handelsblad) bereits mit „Amsterdam. Biographie einer Stadt“ (1997) und „Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Der Untergang des Dorfes in Europa“ (1999) auf sich aufmerksam gemacht.

Nun berichtet er vom ländlichen Holland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, von Industrialisierung, Armut und Klassendünkel, von religiösem Eifer, Wirtschaftskrisen und dem Verlust des Kolonialreiches, vom Mythos des Widerstands gegen die Nazis sowie von der bleiernen, konfessionell geprägten Zeit des Wiederaufbaus und den Utopien der 60er-Jahre, in denen sich der Autor vom orthodox-kalvinistischen Milieu des Vaters emanzipierte.

Catrinus Mak kam 1899 als sechstes Kind einer am Ende zwölfköpfigen Familie eines Segelmachers in der Geneverstadt Schiedam zur Welt. Die Stadt lag „inmitten des saftigen Weidelands wie ein speiender Vulkan: überall Feuer von Schnapsbrennereien“, beschreibt Mak die Lebenswelt, in der sein Vater heranwuchs. „Die Fabrikmauern sonderten einen lauen Gestank ab, die Kanäle dampften, die Augen der Arbeiter schwammen in Alkohol, die Frauen waren mager und schwanger, die Kinder husteten sich die Lunge aus dem Leib.“

Catrinus Mak studierte Theologie, heiratete und übernahm eine Pfarrstelle auf dem Land. 1928 verschlug es die Familie in die Kolonie Indonesien. Dort lebte sie, wie alle Europäer, im „Spätsommer der Standesgesellschaft“. An die Stelle des von Konfessionen geprägten Schubladendenkens trat eine Superioritätshaltung, von der auch die Maks nicht frei waren. „Meine alte Babu habe ich nun schon sieben Jahre“, heißt es 1937 in einem Brief der Mutter in die Heimat. „Sie ist alt und hässlich und ein bisschen frech und nicht ganz bei Trost, aber sie tut ihre Arbeit, sie kann lecker und sparsam kochen. Wenn ich sie ab und zu mal anschnauze, ist sie wieder für einen Monat brav.“

Als der Krieg 1942 auch nach Indonesien kam, steckten die Japaner die Familie ins Lager. Die Maks und ihre Kinder überlebten und kehrten 1945 nach Holland zurück. Dort trafen sie auf ein einzig Volk von Resistancehelden und Philosemiten, die sich durch überaus feurigen Deutschenhass zu reinigen suchten; die Kollaboration vieler Holländer mit dem Besatzer ist für den Autor Mak kein Tabu.

Auch nach dem Krieg war der Alltag a priori weltanschaulich geprägt. Mit dem Wissen des Insiders erzählt Geert Mak, wie Kalvinisten, Katholiken, Liberale und Sozialisten die „Säulen“ des Gemeinwesens bildeten – und sich abschotteten. Jede Gruppe betrieb ihre eigenen Schulen, Radiosender, Zeitungen und Parteien. Die Pfarrei im friesischen Leeuwarden, wo der Autor 1946 als „spätes Glück“ zur Welt kam, war eine Bastion des protestantischen Lagers. „Die ganze Welt war orthodox-kalvinistisch, inklusive der Zäune um die Häuser und der Blätter an den Bäumen“, beschied Geert Mak der Welt seines Vaters und verabschiedete sich 1965 nach Amsterdam. In den folgenden Jahren veränderten sich die Niederlande schneller als je zuvor – zweifellos zu schnell für einen wie Catrinus Mak, der 1983 verstarb.

Mit „Das Jahrhundert meines Vaters“ ist Geert Mak das Kunststück gelungen, individuelle und gesellschaftliche Geschichte auf kongeniale Weise mit einander zu verschränken. Die oftmals detailversessene Erörterung innerprotestantischer Diskurse mag deutsche Leser überfordern. Die spannende und zugleich lockere Erzählweise indes dürfte diesen kleinen Makel wettmachen.

HENK RAIJER

„Gert Maak: Das Jahrhundert meines Vaters“, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens und Andreas Ecke, Siedler Verlag, Berlin 2003, 571 Seiten, 28 Euro