Den Untergang betrachten

Edith Juds Film „Dieter Roth“ erinnert an einen Künstler von Weltruhm, der den Erfolg nie genoss und sich nach ganz unten trank: „Einer muss am Grund forschen“

„Gegenstände dürfen oder sollen vergehen, und das tut ihnen und uns gut.“ Die Stimme, die das sagt, gehört dem Künstler Dieter Roth. Mit den Gegenständen, denen er so gar keine Dauer wünscht, meinte er nicht bloß zerbrochene Boote und Netze, die rund um sein Haus in Island langsam in Gras und Erde übergehen, sondern auch die eigenen Werke. Nicht umsonst ist er schließlich der Mann, der Schokolade und andere vergängliche Materialien in die Kunst einführte und sie damit dem Schimmel preisgab.

Wasser fließt über Moos, Schlamm brodelt in Geysiren. So beginnt das Filmporträt „Dieter Roth“ von Edith Jud mitten in Island und mittendrin zwischen Elementen in Gärung. Als ob die Erde noch nicht ganz fertig wäre, als ob das Leben allgemein und vielleicht auch das menschliche insbesondere eine zweite Chance erhalten könnten. Wenige Filmbilder später gleicht die Oberfläche noch immer dieser Fluss- und Strudelbildung, diesem langsamen Verhärten und Verkrusten. Aber das sind jetzt schon Bilder von Dieter Roth an den Wänden seines „Schimmelmuseums“ in Hamburg. Es brodelt weiter in Töpfen, Björn Roth kocht und rührt eine Masse an, mit der er die Skulpturen seines Vaters weiterbaut. Ein Turm aus Zuckerbüsten wächst und versackt zugleich, erdrückt durch das eigene Gewicht.

Selten fließt ein Film über Kunst so ruhig dahin wie dieses Porträt über den Fluxus-Künstler Dieter Roth. Zeit ist sein Thema, und Zeit wird allen gelassen für die Erinnerung: Seiner ersten Frau Sigridur Björnsdottir, von der er verlangte, alle ihre Bücher und Kleider wegzuwerfen, als sie heirateten. Seiner Geliebten Dorothy Iannone, die ihm und ihrer wilden Liebe in ihren schillernden Zeichnungen ein erotisches Denkmal gesetzt hat. Dem Verleger seiner Bücher und befreundeten Künstlern, die oft viel Zeit in die Realisierung seiner Ideen steckten. Und keiner beschwert sich, wie viel er von ihnen verlangt hat.

Von Kunst wird nicht geredet, vom Leben wird erzählt. Die Kunst entsteht wie nebenbei. Man sieht den Hafen von Reykjavík und hört Roths Stimme: „Hier oft hingegangen nach Hausstreit. Sonntag spät Nachmittag, wenn die Sonne von Westen an die rostigen Schiffeswände scheint. Die überall verspritzte und verschmierte Schiffsfarbe zu betrachten und Bilder auszudenken von mir selber gemalt in diesem Stil.“

Manchmal scheint es, als sei Dieter Roth selbst der Erzähler des Films, so viele Zitate gibt es, so viele Videos von seinen Performance-Duellen mit Arnulf Rainer und schließlich die erschreckenden „Soloszenen“: Beobachtungen eines fertigen Mannes, der sich mit unbarmherzigem Blick durch die Kamera selbst zu therapieren versuchte, nach einer Phase der Trinksucht.

Seine Verzweiflung: Björn Roth, der Sohn, der zwanzig Jahre lang mit seinem Vater gearbeitet hat, hielt es einmal nicht mehr aus. „Siehst du nicht, dass du unten bist?“, fragte er. Und Dieter habe geantwortet: „Einer muss doch hier unten am Grund forschen.“

In seinen Werken scheint Dieter Roth so offen, ein Freund des täglichen Chaos. Seine Arbeitsplätze dagegen dokumentieren das Bemühen um eine Disziplin, die penibel hergestellt werden musste. In jedem Atelier mehrere Arbeitstische, an jedem Tisch die gleichen Stifte und Kaffeetassen.

Am Ende kann man kaum glauben, dass dies das Leben eines Künstlers von Weltruhm war, zu Lebzeiten schon. Dem Kunstbetrieb entzieht er sich. Er hat ihn nicht genossen, den Erfolg, und das ist schade.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Dieter Roth“, Regie: Edith Jud. Schweiz 2003, 105 Min. Ab heute im Kino Hackesche Höfe, 18 Uhr