Zeichen nehmen, wie sie fallen

Du sollst dir ein Bild machen: Kein anderer Popstar beherrscht die Arbeit mit der Oberfläche ähnlich perfekt wie Kylie Minogue

Kylie Minogue dürfte das One-Hit-Wonder mit den meisten Number-One-Hits sein

von TOBIAS RAPP

Warum weiß eigentlich niemand Genaueres über Kylie Minogue? Abgesehen davon, dass sie aus Australien kommt, in den Achtzigern eine Hauptrolle in der Daily-Soap „Nachbarn“ spielte, irgendwann mal eine Affäre mit dem später unter ungeklärten Umständen verstorbenen INXS-Sänger Michael Hutchence hatte und immer phänomenal gut aussieht? Informationen solcher Güte kann man ja mittlerweile fast schon über seinen Nachbarn ergoogeln. Aber weiß man bei Kylie Minogue Genaueres über ihre Familie, wie sie wohnt, mit wem sie zusammen ist, ihre Lieblingsfarbe, ihre Phobien, ihre finanzielle Situation? Nein.

Das ist einigermaßen erstaunlich. Madonnas zahllose Affären, Pinks schwierige Kindheit, Britney Spears Partynächte, Christina Aguileras mangelndes Selbstwertgefühl – über alle anderen weiblichen Stars ihrer Größenordnung gehören detaillierte Persönlichkeitsprofile zum popkulturellen Basiswissen. Wer mit so hohem Körpereinsatz spielt, der scheint fast zwangsläufig mit Haut und Haar ins Eigentum der Platten kaufenden Allgemeinheit übergehen zu müssen. Nur Kylie nicht.

Zur einen Hälfte dürfte dies das Resultat harter Abschirmarbeit sein, die sich in dem gleichen Dunkel verbirgt wie das Privatleben, das sie schützt. Zur anderen Hälfte ist es jedoch Methode. Kylie Minogue verkörpert eine Figur, die zwar den Namen Kylie trägt, von Frau Minogue aber fast unabhängig zu existieren scheint. Sie hat die Oberflächenproduktion zu einer seltenen Perfektion getrieben. Allein das ist schon ein Kunststück. Wie daraus ein Kunstwerk wird, das kann man nun nachlesen.

Vielleicht muss man ein ehemaliger Theologiestudent, auf jeden Fall aber muss man schwul und Brite sein, um ein Buch zu schreiben wie „Kylie La La La“ von William Baker (Rockbuch Verlag, 19,80 Euro), der seit rund zehn Jahren als Creative Director für Kylie Minogue arbeitet. Baker bringt es fertig, auf 218 durchgedrehten und höchst amüsanten Seiten wild gewordenen Namedroppings nicht einen einzigen Satz über Kylie zu verlieren, mit der er laut Klappentext seit Jahren eng befreundet ist.

Das Buch handelt von der Produktion einer Ikone, von dem System Kylie. Es beschreibt, wie Heerscharen von Stylisten, Modemachern, Designern, Fotografen, Make-up-Künstlern, Videoclipmachern, Plattenfirmenverantwortlichen, Freunden und Verwandten immer wieder aufs Neue in die Kraftfelder geschickt werden, die die Pop-Oberfläche durchziehen. Ihr Auftrag: Setze deine Kylie-Vision um. Plündere die Archive, nimm dir, was du tragen kannst, und passe es Kylies Körper an. Mach, dass sie in diesen Zeichen gut aussieht. Mach, dass sie es verkörpern kann. Woher die Zeichen kommen, die da in immer neuen Kombinationen zusammengestellt werden, ist mehr oder weniger zufällig, folgt einer wenig konkreten Richtungsentscheidung – meist dem Umstand, wer mit welcher Aufgabe betraut wird.

An einer Stelle im Buch gilt es etwa, das Outfit für eine Szene der „KylieFever“-Tour zu entwerfen, die Sängerin soll eine Polizistin darstellen. Baker erzählt: „Kylies Polizistinnen-Outfit lag das Filmplakat zu Charlotte Ramplings Film ‚Der Nachtportier‘ zugrunde, auf dem die Schauspielerin barbusig abgebildet war und oben nur schwarze Hosenträger und eine lederne Wehrmachtsmütze trug. Die Polizistin gehörte zu dem Akt, in dem ein New Yorker Straßenkid von der Polizistin zum Gehorsam überredet wird, während sie ihrerseits ihre Ideale aufgibt und sich den Street Gangs anschließt. ‚West Side Story‘ trifft ‚Buffalo Gals‘. Die Polizeiuniform war eine Spezialanfertigung, die wir mit Leuchtfarbe besprühten. Unter dem hellblauen Hemd trug Kylie ein Netzunterhemd mit dem Aufdruck ‚Slim Lady‘, meiner persönlichen Hommage an den blonden Rapper aus Detroit.“

Die Zeichen nehmen, wie sie fallen. Die Zeichen nehmen, wie sie einem gerade einfallen. Das Plakat eines Films, der immerhin von einer sadomasochistischen Beziehung zwischen einem ehemaligen KZ-Aufseher und seinem Opfer handelt, wird in ein New Yorker Musicalszenario geworfen, die Farbe verändert und dann noch etwas Eminem druntergezogen.

Alles ist immer von irgendetwas inspiriert, wird gewissen Großthemen nachgeordnet – „Einsamkeit“, „Autorität“, „Männlichkeit und Weiblichkeit“ – und dann zusammencollagiert. Am Ende steht Kylie dann bei der Anprobe und will mehr Pailletten angenäht haben. Im Ergebnis ist es dann großartiger Pop: anspielungsreich, sexy, widersprüchlich, glamourös.

In einer gewissen Weise erinnert Kylie an den Regisseur Baz Luhrmann, auch er aus Australien, der sich in seinen Filmen ebenfalls ohne abendländischen Sinn und Verstand durch die Kulturgeschichte der letzten hundert Jahre zitiert. Tatsächlich hat Luhrmann auch einmal für die australische Vogue eine große Fotostrecke mit Kylie geschossen: das Leben von Marilyn Monroe auf 22 Seiten.

Die Musik hier ist nur ein Moment unter vielen. Das System Kylie Minogue ist im permanenten Ausnahmezustand. Da wird eine Platte, ein Videoclip, ein Fernsehauftritt, eine Tour konzipiert und in den Umlauf geschossen, und sofort wird sich zusammengesetzt und überlegt, was kommt nun? Welche Parameter müssen wir verändern? Sollten wir einen Gang hochschalten oder einen Gang runter? Ist es zu schwul? Ist es zu disco? Ist es zu sexy? Sollten wir zurück zu den Wurzeln? In welche Richtung gehen wir? Da gibt es diesen Regisseur, der sich von Japan inspirieren lässt – ist das jetzt das Richtige? Oder lieber in Richtung Cyborg?

Das System Kylie befindet sich im permanenten kreativen Ausnahmezustand

Entscheidungen sind Bauchentscheidung, Ergebnisse sind häufig Zufall (bei dem Dreh für das Video zu „On A Night Like This“ etwa geht so viel durcheinander, dass Baker und Kylie bis heute rätseln, wovon der Clip eigentlich handelt). Trends spielen eine erstaunlich untergeordnete Rolle: Sie sind eher ein riesiges Archiv, in dem sich nach Lust und Laune bedient wird.

Das hat nichts von der konzeptuellen Strenge, mit der sich etwa Madonna alle paar Jahre neu erfindet. Obwohl sie der Gay Community ähnlich viel verdankt wie Madonna, wäre Kylie niemals auf die Idee gekommen, sich dort einen bestimmten Tanzstil abzuschauen und sich diesem dann möglichst genau anzuschmiegen, wie Madonna es mit dem Vogueing tat. Hier wird sich nicht erfunden. Hier wird im Kostümfundus gewühlt, improvisiert, gespielt und gesponnen. Deshalb auch diese souveräne Leichtigkeit, mit der Kylie dann jedesmal aufs Neue wieder die Welt verzaubert.

Das System Kylie befindet sich immer in einer absoluten Gegenwart. Es gab in ihrer Karriere zwar zwei Entwicklungsschritte, von der Soap-Darstellerin zur Bubblegum-Popsängerin, von der Bubblegum-Popsängerin zur Sängerin, die sich ihrer Sexualität sehr sicher ist. Aber von diesem Punkt an gibt es nur noch Thema und Variation. Kylie Minogue dürfte das One-Hit-Wonder mit den meisten Number-One-Hits sein, das die Popgeschichte je gesehen hat.

Und hier steht Kylie Minogue dann doch paradigmatisch für eine der popkulturellen Großentwicklungen der vergangenen Jahre. Sie ist Mensch gewordenes Spektakel, Teil einer Aufmerksamkeitsökonomie, die jedes neue Produkt als riesiges Event verpacken muss. Dabei entgeht sie allerdings dem Authentizitätsterror, der das Britney-Christina-Pink-Universum regiert. Dort hat das Berühmtsein fürs Berühmtsein ja ein mittlerweile höchst durchgedrehtes Eigenleben angenommen, wenn ein Sender wie MTV weniger und weniger Musikvideos spielt und stattdessen Sendungen wie „Punk’d“ zeigt, die von nichts handeln als dem von allen Tätigkeiten losgelösten Berühmtsein.

Anders als Britney Spears, Christina Aguilera, Pink, die „schrecklichen drei“ des amerikanischen Kulturimperialismus, die ihre Inszenierungen als Ausdruck ihrer Persönlichkeit anlegen, ist Kylie Minogue nicht – sie scheint. Dass Kylie auch ein neue Platte herausgebracht hat, sei nur ganz am Ende vermerkt. „Body Language“ (Parlaphone/EMI) taugt, wie die meisten ihrer Alben, als Ganzes relativ wenig. Es hat mit „Slow“ eine großartige Single und mit „Red Blooded Woman“ ein Stück, dem man anhört, dass man es mögen können wird, wenn es einem tagein, tagaus als zweite Single-Auskoppelung aus dem Radio entgegenschallt. Wenn es gut läuft, könnte auch mit „I Feel 4 U“ noch zu rechnen sein. Stylingmäßig scheint im Camp Kylie gerade das Gefühl vorzuherrschen, ein wenig french sixties kind of feeling wäre jetzt der richtige Weg.