Zwei unauffällige Bürger

Sprachloses Entsetzen beim Prozess gegen die Kindermörder von Eschweiler: Was in den Köpfen der beiden Angeklagten vorging und worüber sie vor Gericht berichten, übersteigt das Maß dessen, was man Menschen zutrauen würde

Manchmal wünscht man sich, plötzlich aus einem indizierten Gerichtsporno zu erwachen „Wollen Sie als Monster in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen?“, fragt der Staatsanwalt

aus Aachen BERND MÜLLENDER

Es war nur eine winzige, scheinbar alltägliche Geste.

Der Mitverwalter von Markus Lewendels Wohnung berichtete gerade als Zeuge, er wäre auch in den Tagen nach den Morden „nicht im Entferntesten darauf gekommen“, dass dieser Mann, sein Mieter, etwas mit den abscheulichen Taten zu tun haben könnte. Das war am vergangenen Montag, dem vierten Verhandlungstag. Da lehnte sich Lewendels Pflichtverteidiger Wolfram Strauch hinter dem Rücken seines Mandanten zu seinem Kollegen Hans Lambert, um etwas zu betuscheln, und fasste dabei den Angeklagten wie selbstverständlich an der Schulter. Sekundenlang ruhte die Hand da, wie freundschaftlich, fast väterlich.

Diesen Mann berühren, die Bestie, den sadistischen Kinderkiller – wie mag sich das anfühlen?

Das Publikum, prozesstäglich in Hundertschaften anwesend, ekelt sich schon beim Anblick der beiden Kindermörder. Bestie, Monster, Schwein, Zombies in Menschengestalt. So heißen Wirtz und Lewendel unter den Zuschauern. Gelegentlich rief auch mal jemand „Du Bastard!“ oder „Diese Sau!“, als die beiden Angeklagten, insbesondere Lewendel, stundenlang die grässlichen Widerwärtigkeiten ihrer Taten im Detail schilderten.

„Wenn ich den in der Zelle hätte“, sagt einer im Zuschauerraum, „der würde nur noch seine eigene Scheiße zu fressen kriegen.“

Manche Zuschauer können gar nichts sagen. Sprachloses Entsetzen. „Ich habe keine Worte dafür“, sagt eine Frau. Manche trauen sich nur nicht, ihren Ekel zu verbalisieren: Aufhängen, Rübe ab, elektrischer Stuhl, Giftspritze. Wenn nicht bei denen, wann dann?!

Es fällt schwer, dagegen zu reden. Draußen vor dem Gericht haben ein paar versprengte NPDler schon für die Wiedereinführung der Todesstrafe demonstriert.

Gleich zu Prozessbeginn haben die Angeklagten die Morde gestanden. Markus Wirtz, der Mann mit dem Kindergesicht, versinkt in der hinteren Reihe fast in seinem Jacket. Will sich noch kleiner machen, als er ohnehin ist. Am liebsten unsichtbar. Am liebsten in Luft auflösen.

In der Schule, hatte Wirtz berichtet, sei er immer „wie ein geistig Behinderter behandelt worden“, gehänselt, verlacht, geprügelt: „Es war der Horror.“ Auch an seiner Arbeitsstelle hätten Kollegen ihn „wie so einen kleinen dummen Jungen behandelt“. Bis heute war der 28-Jährige nie mit einer Frau intim. Als sie Sonja entführt hatten, versuchte er, das Kind, gegen alle Pläne und zum Entsetzen Lewendels, gleich zu vergewaltigen. Es misslang.

Mehrfach hat Wirtz geweint bei seiner Aussage. Er hatte Tom erdrosselt und bei Sonjas Tötung tags später mitgeholfen. „Es tut mir schrecklich Leid.“ Man nimmt ihm das Entsetzen, seine Scham sogar ab. Wirtz spricht oft sehr leise, immer wieder schluchzend. Während die Suche nach Tom und Sonja noch lief, hätten sie weitere Kinder fangen wollen. Einen Kindersexring aufbauen. Er habe davon geträumt, Mädchen in den Keller zu sperren und zu quälen. „Ich tauchte im Internet in Fantasien ab, in denen es keine Kränkungen gab.“ Ob er heute immer noch ähnlich perverse Wünsche habe? „Ja“, flüstert er.

Was sich die beiden an Folterideen weiterer Opfer ausgedacht hatten und hier locker vortragen, übersteigt das Maß dessen, was man Menschen unserer Zivilisation zutrauen würde. Kinder in den Wäschetrockner stecken zum Beispiel. Oder sie in heißes Fett stecken. Manchmal wünscht man sich, plötzlich aus einem indizierten Gerichtsporno zu erwachen, so unwirklich ist das Ganze. Oder sind wir hier bei Richterin Barbara Salesch für Perverse?

Und doch: Diese beiden Menschen haben unauffällig mitten in der deutschen Gesellschaft gelebt. Was die Zeugenaussagen dieser Woche belegen. Wirtz’ Vorgesetzter berichtet von offensichtlichen Minderwertigkeitskomplexen, dass Wirtz manchmal „Märchen erzählt“ habe und es gelegentlich aus nichtigem Anlass „spontane Ausraster“ gegeben habe. „Wenn er aber gespürt hat, dass man Verständnis für ihn zeigte, hat er manchmal Tränen in den Augen gehabt.“

Jetzt muss der Zeuge fast weinen: „Das muss man sich mal wegtun, der bringt da die Kinder um und kommt am nächsten Tag zur Arbeit.“ Das tat Wirtz Tag für Tag noch bis zur Flucht.

Ein Gutachter hat Wirtz überdurchschnittliche Intelligenz attestiert. Bis kurz vor der Tat war er Vorsitzender der Jungen Union in Eschweiler. „Ohne mich geht da nichts“, habe er auf seiner Arbeitsstelle geprahlt.

Der führende Kopf des gemeinsamen Doppelmordes aber ist offenbar Markus Lewendel gewesen. Er gibt den Coolen, grinsend bisweilen, an den ersten Tagen mit Sonnenbrille. Wenn man aber genau aufpasst, sieht man, wie angespannt er oft durchatmet und nervös auf den strichartig schmalen Lippen herumkaut.

Lewendel sitzt sehr aufrecht und aufmerksam vorn auf der Anklagebank, die auffallend zarten Pianistenfinger massieren immer wieder den pickelübersäten Nacken, während sich im Publikum Entsetzen, Wut und Ekel breit machen, vor allem Ekel.

Lewendel berichtete von seinem verkorksten Leben, seinen Gewaltfantasien. Die Mutter Alkoholikerin. Das Elternhaus zerrüttet. Streit. Schulden. Alkoholprobleme. „Ich kam mit mir selbst nicht parat“, formuliert er auf gut Ulla-Schmidt-Deutsch.

Beruflich geht alles daneben, bis auf die Bundeswehr („die schönste Zeit meines Lebens“).

Gern ist er mit einem „Polizei“-T-Shirt durch die Gegend gelaufen. Damit lockte er auch Tom und Sonja in seine Gewalt, Wirtz hatte den Kindern einen Videothekausweis gezeigt.

Den ersten Sex mit einer Frau hatte Lewendel mit 28, vorher gab es über Jahre ein Verhältnis mit einem Schulkameraden. Ab und an hat er Huren nach Hause kommen lassen. Einmal hatte er sich mit einem kleinen Mädchen im Klo eingeschlossen und sich befriedigt. Und auch auf dem Balkon onaniert, wenn Kinder der benachbarten Schule unten vorbeigingen. Der Krach dort hat ihn so oft genervt. Die nannten ihn den „Rubbelmann“.

Ein Verfahren wegen Exhibitionismus wurde gegen Geldbuße eingestellt. Niemand identifizierte ihn als „tickende Zeitbombe“, wie sich der Prahlhans selbst bezeichnete.

Nach dem Doppelmord inklusive aller Folter, auch mit Elektroschockgeräten, sei er „locker drauf gewesen“, sagt Lewendel locker. Und man habe weitere Kinder abgreifen wollen, sie demütigen. Und Geld mit Foltervideos verdienen. „Am Rad drehen“ sagt er dazu. Von Reue keine Spur. Der Oberstaatsanwalt: „Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Angeklagte hier mehr erzählen als das, wonach sie gefragt werden.“ Und er fragt Lewendel: „Kann es sein, dass sie uns das alles erzählen, um als Monster in die deutsche Rechtsgeschichte einzugehen?“ Lewendel sagte dazu nichts.

Ob man seine Taten, befeuert von den Fantasien seines Kompagnons, vergleichen kann mit denen des Kinderschänders Jürgen Bartsch, der in den 60er-Jahren kleine Jungs missbrauchte, ermordete und später bei seiner Kastration starb? Oder denen Fritz Honkas, des Hamburger Nachtwächters, der Anfang der 70er-Jahre Prostituierte zerstückelte und ihre Leichenteile archivierte? Will sich Lewendel als deutscher Dutroux stilisieren?

Nach den umfassenden Geständnissen dienen die Zeugenaussagen dieser Woche der zweifelsfreien Sicherung der Erkenntnisse und dem näherungsweisen Verstehen, wie diese Menschen ticken. Verteidiger Strauch nannte die intensive Beweisaufnahme am Donnerstag „völlig überflüssig“. Der Vorsitzende Richter wies ihn vehement zurück.

Als eine Nachbarin von Tom und Sonja die kleinen Opfer beschrieb, brach Wirtz wieder in Tränen aus.

Seit gestern Nachmittag haben die Gutachter das Wort. Nächste Woche mühen sich dann die Psychologen, das Unerklärliche zu erklären. Das Urteil nach zehn Verhandlungstagen soll am 8. Dezember folgen.

Handanleger Wolfram Strauch, befragt nach seiner kurzen Geste gegenüber Lewendel, erklärt fast erbost: „Warum sollte ich das nicht tun? Hat der Aussatz? Ich mache mich dadurch doch nicht mit seiner Tat gemein.“ Und weil wir hier im Rheinland sind, sagt der Pflichtverteidiger: „Wissen Sie, wir sind hier im Rheinland, da ist das eine durchaus übliche Geste.“

Ob Lewendel seinerseits die Geste wahrgenommen hat? Ob es für ihn ein unbekanntes Gefühl von Nähe war? Ein – für ihn – besonders intensiver Körperkontakt zu einem anderen Menschen?

Eine Reaktion war nicht zu erkennen.