„Gnädige Frau ist hinübergegangen“

Morgen ist Totensonntag. Endlich! Denn zur Feier gibt es wieder neue Geschichten aus dem Jenseits und dem Bereich kurz davor

von MARK SARG

Der verjährte Mord

Ein Mord, der bereits verjährt war, hatte sich zur Ruhe gesetzt und genoss seine Alterspension.

Eines Nachts holte ihn jedoch seine Vergangenheit ein: Sein Opfer, Lady Harriet Hennenmeister, stand im Nachthemd vor seinem Bett. „Ich mache Sie höflichst darauf aufmerksam, dass ich nicht mehr im Dienste bin und Sie daher nicht noch einmal umbringen kann, Mylady“, belehrte sie der Mord, „ich bitte um Ihr Verständnis.“ „Ich bin durchaus nicht dienstlich hier“, klärte ihn seine Besucherin mit höhnischem Lächeln auf und schlüpfte zu ihm ins Bett.

Der Mord, der in seiner Abgestumpftheit ihr Lächeln als charmant missdeutete, meinte, die Lady hätte ihm endlich vergeben, und ließ sich selig von ihr in den Schlaf wiegen. Bald danach entfernte sie die Bettdecke und verschwand durch das Fenster, welches sie – bei Minusgraden – geöffnet ließ.

Der Mord zog sich eine Erkältung zu, an deren Folgen er wenige Tage später in aller Abgeschiedenheit verstarb.

Der Herr im Fauteuil

In einem Auktionshaus erstand Madame Hermelinda Schigolina ein Gemälde, welches „Herr im Fauteuil“ betitelt war und einen soignierten Herrn in einem ebensolchen Fauteuil zeigte.

Voll Stolz wollte sie es tags darauf einer erlesenen Schar von Gästen präsentieren. Als sie diese in ihren fliederfarbenen Salon bat, brachen jedoch Gekicher und lautes Gelächter aus. Mit feuerrotem Kopf musste sie feststellen, dass der Herr im Bild nunmehr mit heruntergelassener Hose auf dem WC saß!

Hocherzürnt eilte sie in das Auktionshaus und knallte das Gemälde auf den Tisch. Doch war mittlerweile der Herr daraus verschwunden, wohingegen sich stattdessen die WC-Schale überdimensional auftat. „Mit Kundschaften wie Ihnen sind wir gleich fertig!“ Der Beamte packte sie und warf die wild um sich Schlagende hinein!

Danach wurde das Bild unter dem Titel „Dame im Fauteuil“ angeboten.

Die versteckte Botschaft

Demoiselle Ägidia Hintertürl erhielt ein anonymes Schreiben, in dem eine Botschaft (komplett, mit Personal und Botschafter) versteckt war. Da sie die Nachricht nicht verstand und die Botschaft nicht entdeckte, landete alles auf dem Müll.

Als man wenig später amtlicherseits das Fehlen des Botschaftsgebäudes nebst Inventar bemerkte, informierte man umgehend den betreffenden Staat und äußerte die Vermutung, dass sich die Botschaft offenbar irgendwo versteckt halte – woraufhin dieser einfach, ganz offen, den Krieg erklärte.

Vor einem solchen Staat kann man sich nur verstecken!

Der Grabinhaber

Fräulein Thusnelda Hautschlüpfer konnte ihrem Leben lange nichts mehr abgewinnen und hatte nur noch einen Wunsch: möglichst bald zu sterben!

Mit Erleichterung fühlte sie eines Nachts, dass es nun endlich rapide abwärts ging und bald so weit sein dürfte. Da erschien ihr eine ehrfurchtheischende Gestalt im schwarzen Umhang, gab sich mit sonorer Stimme als Inhaber ihres Grabes aus und teilte ihr mit, dass ihr der Eintritt in ebendieses noch nicht gestattet sei. Sollte sie denoch sterben, werde sie zu ewigem Leben verdammt.

Fräulein Hautschlüpfer, die zutiefst gläubig ist und es nie wagen würde, die Äußerungen einer derart gravitätischen Persönlichkeit anzuzweifeln, fügte sich und zwang sich, weiter am Leben zu verbleiben.

Dies ist nun schon hunderte von Jahren her – und dem Vernehmen nach müht und plagt sie sich noch immer mit ihrem Dasein. All die Zeit hält sie dabei ein Trost aufrecht: „Nicht auszudenken, wie lange ich leben müsste, wenn ich damals gestorben wäre!“

Der schwarze Berg

Der schwarze Berg lud zu einer Trauerfeier für den verstorbenen silbernen Berg. Da er aber vergaß, den Termin auf den Billets anzugeben, blieben auch die Gäste aus.

„Macht nichts“, tröstete er sich. „Ich trauere ohnehin nicht wirklich um ihn. Aber eines wurmt mich doch: die Gleichgültigkeit der Leute.“

Das Aschenputtel und die Leiche

Auf einer Bergwanderung traf ein Aschenputtel eine Leiche. „Mein Gott, Sie sehen ja noch armseliger aus als ich!“, stellte Letztere voller Erbarmen fest. „Darf ich Sie zu mir einladen?“ Dankbar nahm das Aschenputtel an, und die beiden verbrachten einen vergnüglichen Nachmittag in einem gemütlichen Sarg.

Beim Abschied erbat die Leiche noch Aschenputtels Telefonnummer. „Falls ich mich eines Tages doch entschließen sollte, mich einäschern zu lassen“, meinte sie augenzwinkernd.

Tante Theophilas Rettung

Regelmäßig pflegte sich die kleine Isabelle Zungenstrecker zu beschweren: „Onkel Eusebius will mir immer Angst machen, wenn du nicht da bist, Mami. Er wirft mir durch den Briefschlitz Leichen herein!“ Worauf ihre Mutter stets mechanisch konterte: „Und was hast du mit ihnen gemacht, Liebes?“ – „Ich habe sie im WC hinunter gelassen.“

Eines Nachmittags konnte die Mama jedoch gerade noch Fürchterliches verhindern, als sie heimkam … und ihre Tochter im letzten Augenblick davon abhielt, die Spülung zu betätigen. „Nun machst du mir Angst, Kind! Was fällt dir ein? Tante Theophila ist doch noch gar nicht tot!“

Das unverhoffte Honorar

Beim Begräbnis von Monsieur Leo de Motzfort auf einem frommen Landfriedhof brach während der salbungsvollen Rede des Geistlichen, Monsignore Maurizio Knochendrescher, plötzlich eine Dame mit Federhut in schrilles, hysterisches Gelächter aus. Da sie dieses trotz mehrfacher Ermahnungen nicht nur nicht einstellen wollte, sondern offensichtlich auch nicht konnte, wusste sich der Geistliche schließlich nicht mehr anders zu helfen, als einem Totengräber die Schaufel aus der Hand zu nehmen und im Namen Gottes die Gottlose damit zu erschlagen – nachdem er sie zuvor noch schnell gesegnet hatte. Anschließend hielt er auch für diese Verblichene eine ergreifende Rede, die alle Anwesenden zu Tränen rührte.

Für jene zweite, unvorhergesehene Grabrede kassierte Monsignore Knochendrescher ein separates Honorar von seiner Behörde, bar auf die Hand, das er aber nicht versteuerte. Allen Mitbrüdern, die ihm daraufhin andeutungsweise unterstellten, den „Erlösungsakt“ mit der Schaufel nur „aus steuerlichen Gründen“ vollzogen zu haben, drohte der Gottesmann ebenfalls mit der Schaufel – im Namen Gottes!

Gruß vom Reh

Herr Bonifaz Hutschlecker ging über eine Waldlichtung, als ihm ein Reh entgegenkam. Dieses überlegte kurz, ob es zuerst grüßen sollte, und entschied sich im Zweifel für die Höflichkeit. Er erschrak fürchterlich und rannte davon.

„Wie man es macht, ist es falsch!“, sinnierte das Reh, während es ihm kopfschüttelnd nachblickte.

Die beleidigte Gans

Zwei Geister tanzten einen Bach entlang, als sie einer Gans, Schelmina von Bräu, begegneten. Diese, ein weithin bekanntes Medium, sagte den beiden auf die Köpfe zu, dass sie Geister seien. Daraufhin sagten diese ihr auf den Kopf zu, dass sie eine Gans sei. Da schwamm sie beleidigt davon.

Das Fräulein auf Zeit

„Entschuldigen Sie, Fräulein, könnten Sie mir die Zeit sagen?“, bat auf der Straße ein Herr einen anderen. „Warum nennen Sie mich Fräulein?“, fragte dieser irritiert. – „Woher soll ich denn wissen, ob Sie Fräulein oder Frau sind?“ – „Weder noch natürlich!“, versicherte er ärgerlich. – „Sie werden doch nicht etwa gar ein … Mann sein?“ sorgte sich da mit stockender Stimme der Herr.

Und ohne eine Antwort abzuwarten rannte er davon, so rasch er nur konnte. In einem solchen Tempo, als gäbe es für ihn die Gesetze der Zeit gar nicht!

Monsieur Rotscheißer

Des Abends in der Oper fragte Monsieur Claudius Rotscheißer eine Sitznachbarin galant nach ihrem Namen. Da derselbe unaussprechlich war, wurde er ihm verschwiegen. Doch deutete er dies als Akt der Unfreundlichkeit und warf ihr seinen linken weißen Samthandschuh ins Gesicht.

Sein am darauffolgenden Morgen stattfindendes Duell mit ihr endete unentschieden. Ob dieser Schmach setzte er seinem Leben freiwillig ein Ende.

Noch heute erinnert die Rotscheißerallee an diesen Galan.

Jenseitsforschung

Nach längerer Zeit wollte Frau Fleddina von Leich, Jenseitsforscherin, ihre alte Freundin Nory Schmatzmunder besuchen. Von deren Haushälterin erfuhr sie: „Gnädige Frau ist hinübergegangen.“ Womit das Café vis-à-vis gemeint war. Von Berufs wegen gewohnt, derlei Begriffe „eindeutig“ zu besetzen, horchte Frau von Leich interessiert auf und fragte nach dem Ehemann der vermeintlich Verblichenen. „Den hat sie mit hinübergenommen.“ Nunmehr vollends erfasst von Betriebsamkeit, eilte sie heimwärts, ohne sich mit weiteren Fragen aufzuhalten. Unterwegs besann sie sich gerade noch, zwei Kränze zu besorgen, von denen sie allerdings nicht wusste, wo sie sie zu deponieren hatte, doch war dies von rein „äußerer“ Bedeutung und konnte warten.

Zu Hause angekommen, verständigte sie sofort die Mitglieder ihres spiritistischen Kreises, um für den Abend eine Séance einzuberufen, deren Ziel natürlich die Kontaktaufnahme mit den „Hinübergegangenen“ war.

Die Sitzung hatte kaum begonnen, als es an der Tür läutete. Frau von Leich öffnete unwillig – und sah sich dem Ehepaar Schmatzmunder gegenüber! (Welches von der Haushälterin informiert worden war.) „Na, ihr wart vielleicht rasch!“, rief sie entzückt aus. „Aber ihr hättet doch nicht zu läuten brauchen“, schmunzelte sie und bat sie herein.

Nun aber konnte sie sich nicht mehr halten. „Also, wie ist es drüben?“, stürmte sie los. „Der Kaffee ist lauwarm“, antwortete Herr Schmatzmunder nach einigem Nachdenken verwundert. Nachsichtig überging sie dies und wandte sich seiner Frau zu. „Die Bedienung ist lahm“, erklärte diese, wiederum nach einigem Nachdenken. „Und es wird zuviel Pfeife geraucht“, ergänzte sie schließlich noch etwas gezwungen, da Frau von Leich weiter wartete – sich jetzt aber endgültig verulkt fühlte: „Wisst ihr was? Ihr müsst euch offenbar erst noch zurechtfinden drüben. Macht, dass ihr wieder heim kommt. Hinüber!“ Und sie hängte jedem der beiden einen der Kränze um den Hals und bugsierte sie sanft zur Tür hinaus.

„Mir scheint, die ist mit ihrem Verstand komplett hinüber!“, staunte Herr Schmatzmunder kopfschüttelnd, nachdem er wie seine Frau den Kranz wieder abgenommen hatte. Auf der Straße angekommen, gingen sie zum Taxistand hinüber und machten, dass sie heimkamen.

MARK SARG, lebt alterslos und unerkannt in Wien. BECK, 45, in Leipzig lebender Cartoonist, ist jüngst mit dem Deutschen Karrikaturenpreis 2003 der Sächsischen Zeitung ausgezeichnet worden. Wir gratulieren, stehend!