Sex, Lügen und Tabletten

Vor vierzig Jahren wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Was hätte er nicht alles noch leisten können, fragt sich sein Biograf Robert Dallek und arbeitet fleißig weiter am Mythos des jugendlichen Strahlemanns mit Idealen

von ALEXANDER CAMMANN

Sex, Macht und gewaltsamer Tod mit 46 Jahren: das sind die Zutaten, die John F. Kennedys Leben bis heute zu einem Mythos machen. Bücher, Filme und Illustriertengeschichten über ihn sind mittlerweile ebenso zahlreich wie die Spekulationen über die Hintergründe und -männer des Attentats von Dallas am 22. November 1963. Die Schüsse aus dem Gewehr von Lee Harvey Oswald, die den Präsidenten im offenen Fond seines Wagens heute vor vierzig Jahren trafen, beendeten abrupt eine der verheißungsvollsten politischen Karrieren der damaligen Zeit. Paradox ist: Kaum eine historische Figur wurde derart minutiös beforscht wie der Patrizierssohn von der amerikanischen Ostküste und regte gleichzzeitig immer neu die Fantasie eines großen Publikums an.

Der Weg des Kennedy-Clans, einer 1849 nach Amerika ausgewanderten irisch-katholischen Familie, ist ein amerikanisches Aufstiegsdrama. Es beginnt mit Patrick Kennedy, der 1858, ebenfalls an einem 22. November, an Cholera starb. Gut dreißig Jahre danach wurde der Großvater John F. Kennedys ein erfolgreicher Lokalpolitiker in Boston, der den so genannten irischen Dreh perfekt beherrschte: angeregt mit jemandem plaudern, gleichzeitig einem anderen die Hand drücken und einen Dritten freundlich anschauen.

John F.s Vater Joe konnte später als viertreichster Mann Amerikas noch eine ganz andere Stärke einsetzen: sein Geld. Er finanzierte wesentlich die erfolgreichen Wahlkämpfe seines Sohnes, ob es um das Senatorenamt von Massachusetts oder die Präsidentschaft ging. „Es ist nicht der Papst, es ist der Papa“, so hatte das Expräsident Harry Truman unter Anspielung auf den katholischen Glauben des Kandidaten formuliert.

Auch die neue Biografie des Historikers Robert Dallek vermag sich dem Mythos JFK nur schwer zu entziehen. Dabei konzentriert sich der Autor einerseits auf die politische Karriere, andererseits ergänzt er das Bild von Kennedy um dessen Krankheitsgeschichte. Schwere, gut geheim gehaltene Leiden plagten den jugendlich strahlenden Präsidenten ein Leben lang: sekundäre Nebenniereninsuffizienz, chronische Entzündung des Dickdarms, Kompressionsbrüche der Wirbelsäule, chronische Prostatitis und schließlich die Addisonsche Krankheit. Diese Aufzählung erinnert eher an das Gesundheitsbulletin eines steinalten sowjetischen Parteiführers als an den juvenilen amerikanischen Polithelden.

Dallek bietet dem Voyeur reichlich Material. Wir erfahren bei ihm vieles über den immensen Frauenverschleiß, den der Autor auf frühe Todesnähe Kennedys als Torpedobootkommandant im Zweiten Weltkrieg zurückführen möchte. JFK schwamm damals, als sein Boot gerammt und gesunken war, um sein Leben – seither hätte er sich immer wieder in weibliche Arme retten müssen, so Dalleks flotte Küchenpsychologie. Poolpartys im Weißen Haus, Callgirls inklusive, dabei eine Deutsche, die vom FBI als Spionin verdächtigt und ausgeflogen wurde – die Ära Clinton verlief dagegen gesittet ab.

Doch jenseits dieser Indiskretionen verfolgt der Autor ein anderes Anliegen: Durch Kennedys frühen Tod, so Dallek, hat Amerika im 20. Jahrhundert eine historische Chance verpasst. Ungeniert geht der Biograf der allseits beliebten „Was wäre, wenn“-Frage nach: JFK hätte sich in einer zweiten Amtszeit aus Vietnam zurückgezogen und wäre außenpolitisch auf die Sowjetunion zugegangen; um die Bürgerrechte für Schwarze wäre es nach Meinung des Autors auch bald besser bestellt gewesen. Erhellend für die Beziehungsgeschichte zwischen Kennedy und seinem Publikum sind Dalleks Spekulationen, gegen die sich vieles einwenden ließe, jedoch kaum.

Der Mythos Kennedy hat viel mit dem zu tun, was auf seine nur drei Jahre währende Präsidentschaft folgte. Denn: Nach ihm ging es mit Amerika bergab. Die Nation verstrickte sich immer mehr in den Vietnamkrieg, die Studentenbewegung erschütterte das Land, später versank die Republikanische Partei im Sumpf des Watergate-Skandals und die Energiekrise ließ die Supermacht zittern. Zu gerne erinnerte man sich deshalb zurück an das strahlende Lächeln von Kennedy. Er meisterte noch die Kuba- und Berlin-Krise (das Desaster in der kubanischen Schweinebucht vergaß man darüber), die Menschen jubelten ihm und seinem geradebrechten „Ish bin ein Bearleener“ zu, jüngst von Andreas Daum brillant gedeutet (taz vom 24. Juni 2003). Und noch der einzige Lichtblick der Nach-Kennedy-Ära, die Mondlandung 1969, beruhte auf einem Programm, das JFK angestoßen hatte.

Kein Wunder also, dass die Gestalt des ermordeten Präsidenten im Nachhinein zu einer Projektionsfläche der amerikanischen Hoffnungen wurde. Dalleks von Grundsympathie getragene Biografie ist faktensatt und spannend geschrieben, die von ihm offerierte Perspektive jedoch konventionell: Männer machen Geschichte. Die dramatischen Veränderungen, die die Vereinigten Staaten in der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebten und ohne die man Entwicklung und Erfolg Kennedys nicht erklären kann, entdeckt man in Robert Dalleks detailversessener Recherche kaum. Viel zu oft konzentriert sich der Autor lediglich auf die politischen Abläufe im Weißen Haus. Überhaupt bleibt die Innenpolitik – mit Ausnahme der schwarzen Bürgerrechtsbewegung – bei ihm außen vor. Eine moderne Biografie hätte den Strukturwandel der amerikanischen Gesellschaft mitgedacht und einbezogen.

Kennedys Tod vor vierzig Jahren war ein Schock für die Welt. Der britische Ideenhistoriker Isaiah Berlin erinnerte an das vorzeitige Sterben Alexanders des Großen: „Die Plötzlichkeit und das Gefühl, dass jemand, der vielen Menschen ein Gefühl von außergewöhnlicher Hoffnung vermittelte, aus dem blühenden Leben gerissen wird, ist in unserer Lebensspanne einzigartig.“

Robert Dallek enthüllt das Standbild JFKs gerne, ohne es dabei zu demontieren. Der Ruf „Der Präsident ist nackt“ wird sich trotz manch intimer Einblicke nicht einstellen. Die Arbeit am Mythos kann also weitergehen.

Robert Dallek: „John F. Kennedy. Ein unvollendetes Leben“. DVA, München 2003, 760 Seiten, 39,90 Euro