Hinter Jacksons Kulissen

Michael Jackson lebt im Reich des Pop, des Versprechens, der Fantasie. Jetzt trifft er auf eine andere Welt, die Welt des Rechts. Da ist er nicht mehr „König“, sondern nur noch gleich. Er wird erledigt sein

VON TOBIAS RAPP

Es wird ein denkwürdiger Augenblick sein, wenn Michael Jackson am 9. Januar dem Haftrichter vorgeführt werden wird. Nicht nur wegen des Medieninteresses, das wohl nur dem Augenblick vergleichbar sein wird, an dem Bin Laden einem New Yorker Haftrichter vorgeführt werden sollte. Welten werden aufeinander prallen.

In der einen Welt sind vor dem Gesetz alle gleich. Michael Jackson – geboren am 29. August 1958 in Gary, Indiana, Beruf: Sänger, des Kindesmissbrauchs angeklagt – wird vor dem Richter stehen. Die andere Welt ist das Reich der Fantasie, das Reich des Pop, des Versprechens, der Verführung und des Begehrens und trotzdem nicht weniger wirkmächtig als die Welt des Rechts. Es organisiert seine Herrschaft entlang einem aristokratischen Modell, doch die Untertanen lieben ihre Fürsten und Könige bedingungslos. Auch wenn der Erfolg einem nicht mehr die begeisterten Massen zu Füßen legt: Wer einmal König dieses Reichs gewesen ist, wird niemals wieder zum Normalbürger.

Michael Jackson schon gar nicht. Seit er ein kleiner Junge ist, lebt er in dieser Welt. Ob Favela, Schlachtfeld, Friedhof oder Nachtclub: Jeder Ort dürfte für ihn Kulisse sein. Denn Kulissen sind die einzigen Orte, die er je kennen gelernt hat.

Den Einbruch dessen, was normalerweise als Realität erachtet wird, hat er erst erleben müssen, als es zu spät war, seine Sicht auf die Welt noch zu verändern. Als ein enttäuschter Fan die Verkaufspraktiken für die „Victory“-Tour anklagte, die auf die Veröffentlichung von „Thriller“ folgte. Doch da war Michael Jackson bereits Mitte dreißig, hatte das erfolgreichste Album aller Zeiten veröffentlicht (rund 50 Millionen verkaufte Exemplare) und war uneingeschränkter Herrscher in seinem Reich. Seinen seit Jahren andauernden Niedergang dürfte er als Anrennen ihm feindlich gesinnter Bösewichter erleben.

Unsere Realität ist für ihn genauso Traum und Albtraum wie unsere Träume und Albträume für ihn Realität sind. Das ist es auch, was ihn als Figur noch immer faszinierend macht, auch wenn niemand mehr seine Platten kaufen möchte. Das ist es natürlich auch, was ihn für einen Staatsanwalt interessant macht. Genauso wie mögliche Straftaten Jacksons in seinen Bereich fallen, ist er auch Teil von Jacksons Welt.

Der Umstand, dass Jacksons Anwesen ausgerechnet an dem Tag durchsucht wurde, an dem er mit der Veröffentlichung eines Best-of-Albums versuchen wollte, seine Finanzprobleme zu beheben, deutet in diese Richtung. Genauso wie die Aussage der Staatsanwaltschaft, sie seien sich sicher, dieses Mal einen „wasserdichten Fall“ zu haben. Es steht also eine Familie im Hintergrund, die der Staatsanwaltschaft offensichtlich frühzeitig versichert hat, sie werde durch keine Abfindungszahlung Jacksons zufrieden zu stellen sein, was der Grund war, warum vor zehn Jahren ähnliche Ermittlungen eingestellt werden mussten. Die Rede war damals von 25 Millionen Dollar. Dass die Staatsanwaltschaft sich ihrer Sache nun so sicher ist, dürfte im Klartext nichts anderes bedeuten, als dass das betreffende Kind sich auf Jacksons Anwesen „Neverland“ wie eine Art Undercover-Agent bewegt haben muss.

Aber all das dürfte der Öffentlichkeit ja in der nächsten Zukunft in größter Ausführlichkeit präsentiert werden. Nebst denkwürdigen Details über Jacksons Lebensstil, die in ihrer Mischung aus durchgeknallter Exzentrik und armseliger Sinnentleertheit alles in den Schatten stellen werden, was man über Jackson schon immer vermutete, aber sich mangels Einfühlungsmöglichkeiten nie wirklich vorstellen konnte. Am Ende wird Michael Jackson erledigt sein, auch wenn er nicht verurteilt werden sollte. Er wird in einer Art und Weise erledigt sein, die wir Kinder der bürgerlichen Aufklärung uns kaum vorstellen können, weil uns der entsprechende Begriff von Fallhöhe fehlt.

Das Album „Invincible“, Jacksons vor zwei Jahren veröffentlichter letzter, gescheiterter Versuch, noch enmal seinen künstlerischen und persönlichen Abstieg aufzuhalten, endete mit den Worten: „What you have just witnessed could be the end of a particularly terrifying nightmare. It isn’t. It’s the beginning.“ In Anbetracht dessen, was ihm bevorsteht, hören sich diese Worte erstaunlich prophetisch an.