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: Euphorie

Cees Nooteboom: „Paris, Mai 1968“. edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, 92 Seiten, 8 €

Es ist der Mai 1968, ein Datum, das viele Biografien beeinflussen sollte, aber das wusste man da noch nicht. Oder doch? Cees Nooteboom, 35 Jahre alt, bricht jedenfalls als Reporter nach Paris auf, um für eine niederländische Tageszeitung von den dortigen Ereignissen zu berichten; man telefonierte damals seine Artikel noch durch.

Die Sorbonne ist im Aufstand. De Gaulle steht vor dem Rücktritt. In den Fabriken streiken die Arbeiter. Was von heute aus als Erstes auffällt, wenn man diese nun als schmales Suhrkamp-Bändchen zum ersten Mal auf Deutsch erschienenen Berichte durchliest, ist das Glücksgefühl, das auf den Berichterstatter überschwappt. „Es ist, als hätte jeder ein wundervolles Geschenk erhalten, Euphorie schwebt über den Köpfen wie eine Wolke, das ist ihr Tag“, notiert Nooteboom anlässlich der ganz Paris erfassenden Demonstration gleich am ersten Tag seines Reportereinsatzes. Man kann sich die aufgeregte Stimme vorstellen, mit der er die Sätze am Telefon zur Redaktion durchgab.

Der Reporter ist fasziniert von der Produktivität auf der Straße, den Gesängen während der Demo, den Flugblättern an der Uni, den ernsthaften Debatten mit den streikenden Arbeitern. Für ein paar Tage sieht er die Fantasie an der Macht. Ein Und-ich-bin-dabeigewesen-Gefühl, das sich immer wieder Bahn bricht. Er sei „mitten in diesem Wirbelsturm der Ereignisse gefangen“, schreibt er. Die Protestierenden bezeichnet er als „eine schöne Generation, die nicht umsonst gelebt haben wird“. Und er registriert auch dies: „Eines steht fest, Revolutionen machen Frauen schöner.“ Alles kulminiert in dem emphatischen Ausruf: „… ich habe die Öffnung gesehen, die ersten Spuren eines totalen Dialogs“. (Ob da die Sätzerin der Zeitung zurückgefragt hat: Meinst du wirklich „total“, Cees? Klar, du hättest das sehen sollen, schreib’s bitte kursiv, ich muss gleich wieder los! – Hübsch wären ein paar Anmerkungen mehr zur Entstehungsgeschichte und zur Einordnung in Nootebooms späteres erzählerisches Werk gewesen.)

Dann ist alles aus. Es ist Juni 1968, Cees Nooteboom berichtet wieder aus Frankreich, diesmal ist er auf dem Land, und alles geht schief. De Gaulle hat nicht kapituliert und behält die Macht, Cees Nooteboom bekommt eine Erkältung, und selbst das Telefon funktioniert nicht; er muss seinen Bericht mit der Post schicken. Wie von selbst nehmen seine Sätze einen elegischen, beinahe müsste man sagen: frustrierten Tonfall an: „Der Monolog, der zwei Monate lang unterbrochen war, wird fortgesetzt.“

Vom rasenden Reporter des Aufbruchs zum melancholischen Analytiker der verpassten Möglichkeiten in noch nicht mal 100 Seiten: Wie in nuce enthält dieses Bändchen die große Erzählung der 68er-Generation – die Abfolge von Aufbruch und Enttäuschung. Immer und immer wieder und in vielen Variationen sollte sie vom Juni 1968 an erzählt werden, und das ganz gewiss nicht nur von Cees Nooteboom selbst.