Einer mit Stallgeruch

Er kann niederländische Bauern zum Weinen bringen und zugleich deutsche Kritiker zum Schwärmen: Ein Porträt des Regisseurs Johan Simons, dessen sinnliches Theater immer mit dem Denken beginnt

VON SABINE LEUCHT

Er mag Büchner, Wedekind und Kroetz, und er mag die deutsche Sprache. Dass es sich bei ihm um einen der größten Regisseure Europas handelt, hat sich inzwischen herumgesprochen; dass er darüber schon 57 geworden ist, merkt man dem Hünen nicht an. Müsste man Johan Simons malen, würde man zu groben Pinseln greifen und mit Farbe nicht sparen. Dann aber, für das Gesicht unter dem unausgeschlafenen Haar, würden die Schattierungen feiner werden und um die Augen herum Geschichten erzählen von einem innerlich lächelnden Grübler und beneidenswert unabhängigen Geist.

So ist auch sein Theater: Unabhängig! Widerspruchsvoll! Zuidelijk Toneel Hollandia heißt es seit 2001, als Simons und sein ewiger Kompagnon, der Schlagzeuger und Komponist Paul Koek, sich mit dem Het Zuidelijk Toneel Eindhoven zusammentaten: die bislang letzte einer langen Reihe von Fusionen seit der Gründung des Wespe-Theaters im Jahr 1979. Als Theatergroep Hollandia arbeiten Simons und Koek seit 1985 zusammen – auf dem platten Land. Denn: „Wer seinen Stall nicht kennt, kennt die Welt nicht.“ Das sagt Simons in Interviews gerne. „Man beginnt dann, sich selbst zu toll zu finden“, schiebt er hinterher.

In Hühnerställen und Fabriken, auf dem Autofriedhof oder in der Kirche wollte Hollandia das Leben der Landbevölkerung dramatisieren – für die spielen, die sonst nicht ins Theater gehen. Das aber, so Simons, sei „komplett misslungen. Schnell hatten wir das gebildetste und bestverdienende Publikum der Niederlande.“ Das Vorhaben aber, unbeeinflusst von Trends eine eigene Sprache zu finden, klappte so gut, dass die Gruppe von überallher Besuch bekam.

Mittlerweile geht sie selbst auf Tour. Die Soli „Gelöschter Kalk“ (über den Reichstags-Brandstifter Marinus van der Lubbe) und Pasolinis „Zwei Stimmen“ sowie „Der Fall der Götter“ nach Lucchino Viscontis Film „Die Verdammten“ zeigt Z. T. Hollandia fast überall in der jeweiligen Landessprache. Zu Hause spielen sie ein Stück über die Schweinepest – zum ersten Mal zu 90 Prozent vor Bauern mit Tränen in den Augen; andernorts entzücken sie Kritiker mit Studien über die Verruchtheit der Mächtigen – und mit beispiellosem Schauspielertheater. „Schwer wie Erde und leicht wie Wasser“, so hat Renate Klett in der Zeit die Hollandia-Akteure beschrieben, die Johan Simons teils seit 17 Jahren die Treue halten und deren Improvisationskunst er so sehr vertraut, dass er auf komplette Durchläufe vor Wiederaufnahmen manchmal verzichtet. Doch von zehn Schauspielern, sagt er, „verkraften das nur vier“. Fedja von Huêt gehört garantiert dazu, und Jeroen Willems, der im „Fall der Götter“ alle drei aufeinander folgenden Direktoren der Essenbecker Stahlwerke spielt. (Parallelen zu den Naziverstrickungen des Flick-Clans sind gewollt.) Willems geht sich buchstäblich selbst an die Gurgel und knipst so leicht den Dämon aus und den debilen Schleimer an, dass er die Verwandlungskunst selbst zu verkörpern scheint. Schön, dass es solche Schauspieler gibt.

Doch ging es Simons natürlich nicht darum, deren Virtuosität zu zeigen, sondern um die Instabilität von Identitäten. Denn bei der großen Affinität zu Themen der Macht erliegt er nie der Versuchung, sie als „das Böse“ gegen die Wand zu stellen. Den Vater zweier Kinder interessiert da eher die Frage, ob es ihm selbst im NS-Staat gelungen wäre, moralisch sauber zu bleiben. Denn das „Tier Mensch“ ist für den sanften Riesen Realität. Was passte zu dieser Ansicht besser als Shakespeares Mord-und-Totschlagsdrama „Titus Andronicus“? In der USA- und globalisierungskritischen Version von Heiner Müllers „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“ hat Simons es unlängst in München inszeniert – mit den Schauspielern der Kammerspiele, für die er gewiss kein einfacher Partner war: „Weniger, geht vielleicht noch weniger“, habe er ständig versucht, ihr Spiel auf ein Minimum zu reduzieren.

Vielen war es dann am Ende zu wenig: Statt grässlicher, aber gut gemachter Bilder („Das muss aufhören“, sagt er ungewohnt rigoros), gab es nur das Sprechen darüber. Die Bühne des Volksbühnen-Raumbildners Bert Neumann zeigte ebenfalls einen Zuschauerraum und packte so Schlächter, Geschlachtete und Voyeure praktisch in ein Boot. Man muss vielleicht nicht wissen, dass es sich dabei um das rekonstruierte Parkett jenes Moskauer Theaters handelt, in dem 2001 bei einer Geiselnahme durch Tschetschenen etliche Menschen starben. Es hilft aber zu begreifen, dass Simons zeigen will, „dass die Dritte Welt längst am Rand der Ersten angekommen ist“.

Dass Theater für ihn immer politisch ist und mit dem Denken beginnt, das betont der ehemalige Tänzer immer wieder, der beim Gang durchs Theater gar nicht kopflastig wirkt, sondern wie einer, der einfach gerne lebt. Kein Wunder also, dass auch seine Inszenierungen leben, Musik atmen, Fleisch haben – und manchmal auch nackte Erde. Das verträgt sich mit politischem Engagement, mit Intellektualität und sogar mit Reduktion, o ja.

Der Mann, der es für seine beste Eigenschaft hält, „mal etwas nicht zu wissen, ohne panisch zu werden“, trägt eine knallrote Jacke über der ausgebeulten Jogginghose und lächelt nun nicht mehr nur mit den Augen. Er hat seine Linsensuppe aufgegessen, sagt, dass er die gewaltresistente Menschlichkeit eines Nelson Mandela bewundert und dass von zehn seiner Arbeiten sechs „Scheiße“ sind. Macht ihm das nichts aus? „Doch, das ist schrecklich“, sagt Simons leichthin. „Aber manchmal hatte ich was zu sagen.“ Schön, dass es solche Menschen gibt. Und dass sie Theater machen.

„Fall der Götter“, 26.–30. November, HAU eins (Hebbel am Ufer), Berlin