Fassade als Bürgerpflicht

Ein würdiger alter Narr und großer Fotograf: Boris Mikhailov stellt mit seinen Studenten an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig aus. Es sind präzise Studien vom Rand der Gesellschaft

von SUSANNE ALTMANN

Noch Anfang dieses Jahres überraschte der Träger des renommierten Hasselblad-Preises Boris Mikhailov während eines Interviews mit einer leicht resignierten Grundsatzfrage: „Was kann man heute überhaupt noch fotografieren?“ Der erfolgreiche Fotograf aus der Ukraine hatte plötzlich das Gefühl, hier im Westen käme er sich selbst abhanden, verlöre allmählich seine künstlerische Identität. Das Kontrastprogramm von Wohlstand und Bildüberflutung, die gnadenlose Gestaltung aller verfügbaren Oberflächen schienen dem sozialkritischen Konzeptualisten nur noch wenig Raum für eigene Entwicklungen zu bieten.

Doch seine neuen Werke beweisen das Gegenteil. Sie nehmen genau diese Oberflächen unter die Lupe und zeigen jene Risse, die ein genauer Beobachter wie Mikhailov nach kurzer Eingewöhnungsphase einfach finden muss. Seine meist großformatigen Bildzyklen, aufgenommen in deutschen Fußgängerzonen, transportieren sicher nicht die himmelschreiende Trostlosigkeit der Motive aus seiner Heimatstadt Charkow, die seine früheren Serien beherrschte. Wohl aber spiegeln sie präzise die Ränder unserer Wohlstandsgesellschaft und deren krampfhafte Versuche, Abgründe zu übertünchen.

Das programmatische Aufblitzen von roten Farbflächen wie etwa in dem Wühltisch mit Kleidungsstücken, in der Coca-Cola-Werbung oder im Kostüm der adretten Matrone erinnert fast ironisch an seine übermalten Fotos aus der Zeit der ideologiekritischen Soz Art: Fassade als erste Bürgerpflicht. Mikhailov hat wieder zur Bestform gefunden und zu seiner Verantwortung als stilsicherer Chronist der Gegenwart – ohne Rücksicht auf kulturelle Unterschiede.

Vielleicht haben ihm ja seine Leipziger Studenten bei dieser Entdeckungsreise zwischen den Welten geholfen, die nun als Ausstellung in der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) Leipzig zu sehen ist, wo Mikhailov zuletzt als Gastdozent lehrte. Gemeinsam mit seinen Studenten sah er sich „Auf der Suche nach Identität“. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten gelang es Mikhailov als Lehrender im DAAD-Programm, die jungen Fotografen zu Hochleistungen zu animieren und mit ihnen zusammen eine zunächst fremd erscheinende Umgebung zu ergründen. Das im Titel anklingende Problem der Suche nach Identität wirkte wohl in beide Richtungen. Im August 2003 brachte eine Studienreise in Mikhailovs Heimat, nach Odessa, offensichtlich auch den letzten kreativen Knoten zum Platzen. Denn die gegenwärtige Präsentation birgt, buchstäblich bis unter die Dachsparren des Hauses, erstaunliche Zeugnisse von studentischen Arbeiten.

Eine Hauptrolle spielt dabei (kaum verwunderlich) der Schwarzmeerstrand; auch die Nähe zu den subtilen Milieustudien des Professors ist in den Arbeiten nicht zu übersehen. Noch bis vor einiger Zeit behauptete Mikhailov hartnäckig seinen Standort außerhalb der Kunstmetropolen des Westens, denn: „Der Westen lenkt mich zu sehr ab. Wo sonst könnte ich so intensiv arbeiten wie in Charkow?“ Dort entstanden während vier Jahrzehnten beeindruckende Bilderfolgen wie „Case History“ (1999). Die 500 Aufnahmen umfassende „Fallstudie“ zeichnet ein bedrückendes Bild der Obdachlosigkeit in der einstigen Sowjetunion. Auf den großformatigen Hochglanzprints herrscht das Elend der postsozialistischen Gesellschaft: heruntergekommene Outcasts, Alkoholiker, mental und physisch angeschlagene Gestalten und billige Prostituierte werden zu Protagonisten erhoben, ohne Denunziation oder den Verlust an Würde.

Auch in Leipzig klingen noch Zitate aus „Case History“ an, verpackt in ein unvollendetes Buchprojekt, das 1999 von der Heiner-Müller-Stiftung in Auftrag gegeben wurde. Nun präsentiert es sein Autor erstmals als Folge von absichtsvoll dilettantisch gereihten Blättern. Inmitten von Anekdoten und Gedankensplittern bekommen die HeldInnen von „Case History“ noch einmal ihren unprätentiösen Auftritt. „Ich wollte damit keine Müller-Stücke illustrieren, sondern mich in sein Denken einfühlen und ähnlich wie er Strategien von Montage und Kontrast verfolgen“, erklärt Mikhailov seine fotografischen Ziele.

Sarkastisch und spielerisch zugleich setzt der naturalistische Bilderbogen Zeugnisse von Kindesmissbrauch oder Obdachlosigkeit zu harmlosen persönlichen Schnappschüssen. Tagebuchartig fügen sich lapidare Kommentare zu den Aufnahmen, wie etwa: „Um zu bestimmen, ob ein Mensch noch lebt oder tot ist, drückte ihm der Arzt unerwartet stark aufs Auge.“ Mikhailov, der sich in einer rein schöpferischen Beobachterrolle stets unwohl gefühlt hat, platziert sich immer wieder selbst in diese Collage hinein. Und damit nicht genug, wagt er sich bis an die Schmerzgrenze der Selbstentblößung: In einem erschreckenden, fast obszönen „Selbstbildnis als alter Narr“ präsidiert er würdig über seinem Panoptikum von Randexistenzen.

Bis 6. DezemberInfo: www.hgb-leipzig.de