Flashback in die Ichbezogenheit

Noch der Todkranke lässt nichts aus, um letzte Lacher zu kassieren: Denys Arcands Film „Invasion der Barbaren“ ist eine bittere Gesellschaftsanalyse

Am Anfang eine extreme Kamerafahrt durchs tägliche Chaos, der panische Blick eines Kranken, der in die Notaufnahme gerät und über Krankenhausflure geschoben wird. Was sich dort abspielt, ist ein Katastrophenszenario, in dem sich für den frankokanadischen Regisseur Denys Arcand wenn nicht der Zustand von ganz Nordamerika, so doch der seines Landes spiegelt.

Überfüllte Gänge, allein gelassene Patienten – die Sequenz steigert den grellen Eindruck sozialen Elends inmitten kapitalistischer Prosperität zum Geisterbahnerlebnis. Das volle Ausmaß der Missstände zeigt sich dann hinter den Flurtüren: jammernde Patienten, abgebrühtes Personal, dumpf mafiöse Gewerkschaftstypen, die ihre Diebstahlbeute an finanzkräftige Opfer zurückverkaufen und für viel Geld in der Lage sind, einen stillgelegten Krankenhaustrakt samt Infrastruktur und Pflegeleistung wieder flott zu machen.

Mit der „Invasion der Barbaren“ meint Arcand eben nicht das Feindbild, das die Öffentlichkeit Nordamerikas seit dem 11. September 2001 beherrscht, er nimmt vielmehr die Zerstörung von innen heraus ins Visier. Insofern passt sein Film wie ein Puzzlestück zum kritischen Blick und emotionalen Appell von Michael Moore, erzählt jedoch eine Geschichte, die kabarettistisch überspitzt und melodramatisch ans Herz gehen will.

Anders als sein Dokumentarfilmkollege südlich der kanadischen Grenze zielt Arcands satirisches Feindbild nicht auf die heimliche Front der schweigenden Mehrheit. Seine Sünder und Versager sind Soziotypen aus dem urbanen Frankokanada, Männer und Frauen der 68er-Generation, gut situierte Exhippies, in Anekdoten schwelgende Hedonisten und Selbstverwirklicher der ersten Stunde.

Eine Gruppenerfahrung wird erzählt: Ein Geschichtsdozent (Rémy Girard), einst ebenso notorischer Frauenvernascher wie scharfzüngiger Gesellschaftskritiker, langt mit tödlichem Krebs im Krankenhaus an. Seine Exfrau (Dorothée Berryman) ruft den gemeinsamen Sohn (Stéphane Rousseau) zu Hilfe, und dieser organisiert nicht nur ein gegen alle widrigen Umstände märchenhaft freundliches Hospiz für den Sterbenden, sondern bringt die alten Freunde und Geliebten am Bett des Vaters zusammen. Eine Tour de force durch die alten Geschichten beginnt, allesamt Flashbacks in den Hedonismus, die Ichbezogenheit und die mehr als gelegentlichen Vernachlässigung ihrer Kinder. Kaum ein Klischee typischer Lebensläufe und aktueller Lebensmuster dieser Generation bleibt unerwähnt.

Arcands Geschichte vom Tod der 68er ist ein spätes Sequel. Vor fünfzehn Jahren drehte er mit demselben Ensemble „Der Untergang des amerikanischen Imperiums“, in dem seine Chargen ihren Stress mit der unübersichtlichen Promiskuität vorführten. Im neuen Film ist die nächste Generation präsent, unübersehbar geschädigt durch die Alten, verstrickt in die fällige Abrechnung mit ihnen und immer noch um ihre Liebe bemüht.

Mit schriller Melodramatik peppt Denys Arcand seine bittere Gesellschaftsanalyse auf. Deutlich misstraut er der Stärke seines Stoffs, indem er seine Truppe zum finalen Pointenknallen anheizt. Die kanadischen Theaterprofis gebärden sich als Rampensäue vor der Kamera und hetzen durch das pralle Dialogbuch. Sogar der Todkranke lässt nichts aus, um letzte Lacher zu kassieren.

CLAUDIA LENSSEN

„Invasion der Barbaren“. Regie: Denys Arcand. Mit Rémy Girard, Marie-Josée Croze u. a. Kanada/Frankreich 2003, 99 Min.