Generation Arbeitsamt

Und dabei hast du dir doch immer solche Mühe gegeben: Tine Wittlers Roman „Parallelwelt“

VON KOLJA MENSING

Bisher klang „Arbeitslosigkeit“ für Marnie wie „Schwindsucht“ oder „Räumungsklage“ und betraf ausschließlich „Ungebildete“, „Produktionsarbeiter und Zuwanderer“: Männer, also, die den ganzen Tag „in voll gekleckerten ehemals weißen Unterhemden fernsehen“. Die Arbeitslosen, das waren lange Zeit die anderen, doch jetzt ist plötzlich alles anders. „Es sind eben schwierige Zeiten“, sagt der Vorstandsvorsitzende der einstmals erfolgreichen Hamburger Internetfirma, für die Marnie als Onlineredakteurin arbeitet, räuspert sich –und gibt die Entlassung von vierzig Mitarbeitern bekannt: „Wir werden uns bemühen, alles so schnell wie möglich abzuwickeln.“ 24 Stunden später hält Marnie ihre Kündigung in der Hand. Immerhin hat sie erst einmal etwas zu tun: „Morgen gehe ich zum Arbeitsamt.“

„Parallelwelt“ heißt dieser Roman von Tine Wittler, der im weitesten Sinne zu der zweiten Welle der so genannten Generationenbücher gehört, die in diesem Jahr die Buchhandlungen geflutet hat. Genau wie Florian Illies in „Generation Golf zwei“, Matthias Kalle in „Verzichten auf“ oder Volker Marquardt in seiner Abhandlung über „Das Wissen der 35-Jährigen“ beschreibt Tine Wittler in ihrem Roman einen Moment der Ernüchterung, der zwar nicht eine ganze Generation, sicherlich aber ein bestimmtes Milieu kennzeichnet. Es geht um diejenigen jungen und jüngeren Menschen, die schon mit Mitte zwanzig eine beachtliche Praktikantenkarriere und mehrere Auslandsaufenthalte hinter sich hatten, in Internet-Start-ups, Medienhäusern und Werbeagenturen als Grafikdesigner, Onlineredakteure oder Produktmanager jede Menge unbezahlte Überstunden gemacht haben, die sich „jung, elastisch und trendy“ fühlten und jetzt, nach dem Zusammenbruch des Neuen Marktes und der allgemein schlechten Wirtschaftslage, plötzlich in der Wirklichkeit beziehungsweise auf dem Arbeitsamt im Büro ihres überforderten Sachbearbeiters angelangt sind.

In so einer Situation sieht man sich nach Leidensgenossen um, und möglicherweise gehen die Generationenbücher darum auch weiterhin so verschwenderisch mit dem Pronomen „wir“ um. Die Beschwörung eines kollektiven Schmerzes mag ihre heilsame Wirkung haben, eine Literatur jedoch, die ständig in der ersten Person Plural spricht, ist auf die Dauer recht anstrengend. Entweder man fühlt sich angesprochen oder man langweilt sich, dazwischen gibt es nichts. Schön also, dass Tine Wittler mit „Parallelwelt“ einen „echten Roman“ geschrieben hat. Marnie darf als Ich-Erzählerin nicht nur eine kündigungsbedingte Sinnkrise erleben, sondern sich auch gleich in zwei Männer verlieben, sich mit ihren Freundinnen zum Frustbesäufnis in der Eckkneipe treffen – und sich über Weihnachten mit ihren Eltern herumstreiten, für die die Kündigung ihrer Tochter bei dem „Internetdingsda“ in Hamburg ein Weltuntergang ist: „Das ist ja schlimm! O nein, so was, und du hast dir immer solche Mühe gegeben, wie können die das denn machen, wie kommt denn das?“

Ein richtig toller Roman ist „Parallelwelt“ allerdings nicht. Dafür ist zum Beispiel die Geschichte mit den beiden Jungs (von denen der eine auch noch ausgerechnet Moritz heißt) doch etwas einfach gestrickt, und zum Schluss schlägt genau der individualstrategische Zweckoptimismus durch, den Tine Wittler zuvor mit kleinen Zitaten aus den großen Magazinen eher beiläufig entlarvt hatte. „Mut zur zweiten Karriere“ fordert der Focus, die Allegra weiß, dass „schlau sparen Spaß haben“ heißt, und der Spiegel verrät im „Risiko-Jahr 2003“, wie „die Deutschen ihre Krise überwinden können.“ Lässt man diese kurzatmigen Durchhalteparolen aus dem vergangenen Jahr bei der Lektüre noch einmal Revue passieren, drängt sich der Eindruck auf, dass das Schlimmste noch bevorsteht – eine Gesellschaft nämlich, der mit der Arbeit auch die Puste ausgeht. Auf den Roman, der davon erzählt, wird man noch ein wenig warten müssen …

Tine Wittler: „Parallelwelt“. Roman. Argon Verlag, Berlin 2003, 310 Seiten, 17,90 €