Die Blindheit der Europäer

Der totalitäre Gehalt des Islamismus ist offenbar. Dass westliche Intellektuelle ihn und seine Protagonisten nur in Opferrollen wahrnehmen wollen, hat dramatische Folgen

Der Islamismus in der Türkei hat im Kern weder mit dem Irakkrieg noch mit der Dominanz der USA zu tun

Etwas läuft schief in Deutschland. Als im Sommer 2000 in Düsseldorf ein Bombenschlag auf jüdische Aussiedler verübt wurde und ein Brandanschlag auf eine Synagoge, standen die Deutschen Kopf. Denn vermutet wurde ein rechtsextremistischer Hintergrund. Eine ganze Nation forderte: Null Toleranz! Kein vernünftiger Mensch wäre damals auf die Idee gekommen, den Nahostkonflikt oder gar die US-Hegemonie in der Welt für diesen Terror verantwortlich zu machen.

Ganz anders waren die Reaktionen nach den jüngsten Anschlägen in Istanbul. Die Toten waren noch nicht aus den Trümmern geborgen, da war die Schuldfrage schon geklärt. „Bush und Blair kann sich die Welt nicht leisten“, meinte die taz in ihrem Kommentar. Unterstellt wurde eine Kausalität zwischen der Irakpolitik George W. Bushs und Tony Blairs und den Terroranschlägen in Istanbul. Das ist mehr als eine mutige Interpretation. Denn die organisatorischen Hintergründe und die Tatmotive sind auch vierzehn Tage später nur unzureichend aufgeklärt.

Die Bereitschaft zu schnellen Schlussfolgerungen lässt aufhorchen. Sollte hier der islamistische Terror missbraucht werden, um die eigene, durchaus berechtigte Kritik an der Politik des amerikanischen Präsidenten mit blutigen Argumenten zu untermauern? Getreu dem Motto: Seht ihr, das kommt davon! Wer die Dinge so sehen will, der wird den Islamismus nicht als eine dem Faschismus vergleichbare totalitäre Ideologie interpretieren, sondern als eine Bewegung der unterdrückten und ausgebeuteten Massen gegen die amerikanische Hegemonie.

Tatsächlich wird dies von vielen in Deutschland so betrachtet. Seit Islamisten und nicht Rechtsextremisten bomben und Juden jagen, hält sich die Empörung gegenüber den Tätern in Grenzen. Der Anschlag auf die Synagoge in Düsseldorf wurde von jungen Islamisten verübt, die Anschläge vom 11. September wurden maßgeblich in Deutschland vorbereitet. Ein Aufstand der Anständigen? Fehlanzeige. Lieber vertiefen sich Millionen Bürger in Verschwörungstheorien rund um den 11. September. Und während in Frankreich jüdische Einrichtungen von Islamisten arabischer oder nordafrikanischer Herkunft angezündet oder in die Luft gesprengt werden und in Berlin sich die Übergriffe auf Juden häufen, unterschlägt die EU eine brisante Studie, die genau diese Beobachtung bestätigt. Stattdessen wird über die Frage sinniert: Hat das alles vielleicht doch etwas mit dem Nahostkonflikt, dem Verhalten der Juden oder der Politik der USA zu tun?

Seit die indische Schriftstellerin Arundhati Roy George W. Bush zum dunklen Wiedergänger Bin Ladens erklärte und Michael Moore diese These in seinen Erweckungsshows unterhaltsam bestätigt, gilt nicht nur für Globalisierungskritiker als ausgemacht: Die Gewalt, die die Hegemonialmacht USA weltweit in Form eines enthemmten globalisierten Kapitalismus sowie der Missachtung von Menschenrechten und internationalen Abkommen ausübt, kehrt in den Westen zurück. Somit könnte man die USA auch für den Aufstieg des europäischen Faschismus in den Dreißigerjahren verantwortlich machen. Schließlich breitete sich von dort nach 1929 die Weltwirtschaftskrise aus.

Es ist ein eurozentristischer Blick, der den Akteuren der Peripherie nur Reaktionen auf das Treiben des Westens zutraut. Islamistische Terroristen werden folglich als etwas ungezogen, überspannt und zugegebenermaßen fragwürdig in der Wahl ihrer Mittel wahrgenommen. Und nicht als Menschen mit eigenen sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen, für die sie ganz allein die Verantwortung zu tragen haben. Die Folgen sind dramatisch. Statt sich einen klaren Begriff des Islamismus zu erarbeiten, führen europäische Intellektuelle gespenstische Diskurse, die Opfer zu Tätern und Täter zu Opfern machen.

Der türkische Islamismus zum Beispiel hat in seinem Kern weder mit den Irakkriegen, dem Kolonialismus, dem Afghanistankrieg noch mit der US-amerikanischen Dominanz in der Welt nach 1945 zu tun. Er ist ein Produkt innertürkischer Auseinandersetzungen und des militanten Islamismus von außen. Seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 tobt ein Kulturkampf zwischen Laizisten und Islamisten. Letztere haben bis heute die strikte Trennung von Staat und Religion, die Gleichstellung der Frauen, das bürgerliche Recht und den Parlamentarismus nicht akzeptiert.

Um die radikalislamistische Herausforderung in ihrer ganzen Dimension zu begreifen, wäre es nützlich, sich eingehender mit den Gemeinsamkeiten zwischen Faschismus und Islamismus auseinander zu setzen. Es ist kein Zufall, dass die 1928 gegründeten Muslimbrüder, die für den gegenwärtigen Islamismus das sind, was die Bolschewiki für die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts waren, bis 1945 eng mit den Nationalsozialisten kooperierten, später dann mit aus Deutschland geflohenen Altnazis. Obgleich die einen ihr Wahnsystem religiös begründen, die anderen rassisch, wollen beide Ideologien ganz Ähnliches: unter anderem die Beseitigung des parlamentarischen Systems, die Abschaffung aller Parteien, die Wiedererrichtung patriarchaler Dominanz, die Vernichtung der Juden.

Seit Islamisten und nicht Rechtsextreme Juden jagen, hält sich die Empörung über die Täter in Grenzen

Beide Bewegungen führen einen kulturellen Kampf gegen alle sinnlichen und materiellen Versuchungen der kapitalistischen und kommunistischen Welt. Beide Bewegungen schrecken nicht vor Massenmord zurück. Der islamistischen Bewegung sind in der Vergangenheit hunderttausende von Menschen im Nahen Osten, im Iran, in Afghanistan, Pakistan und der Türkei zum Opfer gefallen. Interessiert hat das europäische Intellektuelle nur peripher. Bewegt hat das Thema sie erst, als die USA in den Achtziger- und Neunzigerjahren temporär mit Radikalislamisten zusammenarbeiteten und das Setting vom „bösen Amerika“, das die Welt aus den Fugen sprengt, wieder greifbar war. Seitdem hält sich der Irrglaube, der Islamismus wäre erst durch die Intervention der USA zu der Gefahr geworden, die er seit nahezu achtzig Jahren vor allem für die muslimischen Gesellschaften darstellt.

Warum fällt es vielen so schwer, den totalitären Gehalt der islamistischen Bewegungen ähnlich klar und kritisch zu sehen, wie sie es beim Faschismus und Rechtsextremismus inzwischen gelernt haben? Warum sind die Reaktionen auf beide Herausforderungen so unterschiedlich, obgleich der islamistische Terror seit mehr als zehn Jahren auch den Westen heimsucht? Es ist zu befürchten, dass der Islamismus als Stellvertreter gesehen wird, der den „antiimperialistischen“ Kampf gegen Israel, die Juden und die USA mit der Militanz führt, die man sich selbst nicht mehr gönnt. Es fällt auf, dass ehemalige Aktivisten der Dritt-Welt-Bewegung bei den gegenwärtigen Debatten viel Mühe darauf verwenden, die islamistischen Täter zu Opfern internationaler Kapital- und Machtverhältnisse zu stilisieren. Die Rechtsextremisten in Deutschland dürften dies alles mit Interesse zur Kenntnis nehmen. EBERHARD SEIDEL