Die heilige Lilja der Plattenbauten

Überwältigungskino der anderen Art: Nach dem wunderbar leichten Debüt „Raus aus Åmål“ und der Kommunen-Komödie „Zusammen!“ wählt der schwedische Regisseur Lukas Moodysson einen schweren Stoff. „Lilja 4-ever“ erzählt drastisch, wie eine junge Russin zur Prostitution gezwungen wird

Ein frommer Wunsch: dass die potenziellen Freier einer Lilja den Film sehen

von BARBARA SCHWEIZERHOF

In der dunklen Vorweihnachtszeit hat der Mensch besondere emotionale Bedürfnisse, die auch das Kino gern bedient. Schließlich sind es diese seelischen Regungen, die den Verstand, der auf Sparen eingestellt ist, zu überlisten vermögen und so für das jährliche Konsumhoch in allen Branchen sorgen. Klassischerweise werden deshalb im Dezember Familienfilme wie „Dschungelbuch“ und „Findet Nemo“ herausgebracht. Oder Feelgood-Movies, wie das entsprechende Genre der emotionalen Beglückung für Erwachsene heißt. Der soeben angelaufene „Tatsächlich … Liebe“ ist dafür ein gutes Beispiel – vor allem weil er die cineastische Form des Weihnachtstellers mit seinem Reigen von Liebesgeschichten zwar bedient, aber zugleich auch ein wenig ironisiert.

Doch in der Häufung verhält es sich mit Feelgood-Movies wie mit Weihnachtsplätzchen – nach zu viel Süßem wächst der Appetit auf Salziges. Auch hier weiß die Filmindustrie ihre Kunden zu versorgen: In den USA kam vergangene Woche Terry Zwigoffs „Bad Santa“ in die Kinos, ein Film, in dem Billy Bob Thornton einen geilen saufenden Weihnachtsmann gibt, der alles andere als nett zu Kindern ist.

Im kunstsinnigen Europa versucht man den Appetit auf Pikantes weniger mit derben Komödien als mit anspruchsvollen Arthouse-Filmen zu befriedigen. Und da Weihnachten auch die Hochzeit für Spendenbüchsen ist, kommen jene Filme gelegen, die brennende zeitkritische Themen aufgreifen. Wie zum Beispiel Lukas Moodyssons „Lilja 4-ever“, der sich einem Thema widmet, das in den Nachrichten zwar eher am Rande abgehandelt wird, die Fantasien von Lesern und Zuschauern aber stark beschäftigt – dem Mädchenhandel. Geschichten vom „Sklavenmarkt der sexuellen Dienstleistungen“ gehören zu den modernen Schauermärchen, und die machen viel Eindruck, gerade weil jeder weiß, dass sie tatsächlich passieren.

Mit „Raus aus Åmål“ und „Zusammen!“ ist der schwedische Regisseur Lukas Moodysson bekannt geworden. In beiden Filmen spielten Jugendliche beziehungsweise Kinder eine zentrale Rolle, bei beiden Filmen verstand es der Regisseur, trotz aller Zeitkritik den Zuschauer in beste Stimmung zu versetzen. „Lilja 4-ever“ dagegen ist Überwältigungskino der ganz anderen Art; ein Film, der die Zuschauer – ganz im Sinne seines Autors – „wie ein Zug überfährt“. Er zeigt das Schicksal der 14-jährigen Lilja, deren Hoffnung, aus dem Elend der Plattenbauten Osteuropas herauszukommen, sie immer wieder in den nächsten Kreis der Hölle führt. Feelgood-Movies zeichnen sich dadurch aus, dass man sie wieder und wieder schauen kann, wenn es sein muss, Jahr für Jahr. „Lilja 4-ever“ gehört dagegen zu jenen Filmen, die man, je besser man sie findet, desto weniger ein zweites Mal anschauen will.

Denn bei „Lilja 4-ever“ handelt es sich um eine veritable Passionsgeschichte, die dem Zuschauer keine andere Chance lässt als mitzuleiden. Das schlimme Ende wird am Anfang angedeutet: Während Rammstein „Mein Herz brennt“ schmettern, sieht man die flüchtende Lilja in Verzweiflung auf eine Autobahnbrücke zulaufen. Erst dann beginnt mit der absichtlich vage gehaltenen Ortsangabe „Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion“ die eigentliche Erzählung. In einem heruntergekommenen Wohnviertel, im „Irgendwo“ einer Peripherie, deren Randständigkeit umso trostloser erscheint, als man sich das Zentrum gar nicht vorstellen kann, lebt Lilja mit ihrer Mutter.

Nicht nur hängen die Wolken hier stets besonders tief zwischen den grauen Betonblöcken; der äußeren Verwahrlosung entspricht zudem die innere der Menschen vollkommen: Schon die Lehrerin macht zynische Witze über die bevorstehende glänzende Zukunft der Schüler. Die Mutter lässt ihre Tochter allein zurück, um einem dubiosen Liebhaber nach Amerika zu folgen. Kurz darauf steht bei Lilja eine gefühlskalte Tante vor der Tür, die sich zwar für sie verantwortlich erklärt, aber nur insofern, als sie Lilja zwingt, in eine angeblich billigere Wohnung umzuziehen. Die stellt sich als dreckiges, dunkles Loch heraus. Erst später wird Lilja entdecken, dass die Tante die schönere Wohnung nicht etwa weitervermietet hat, um Unterhalt zu erwirtschaften, sondern selbst dort eingezogen ist.

Schnell hat Lilja das wenige hinterlassene Bargeld aufgebraucht. Eine Freundin zeigt ihr, wie es geht: In der Disko bietet sie sich Männern an. Noch zögert Lilja. Den Preis der sozialen Isolation zahlt sie trotzdem. Es dauert nicht mehr lange, bis es kommt, wie es kommen muss.

In diesem sich verdichtenden Elend gibt es nur ein positives Gegengewicht –und das ist Liljas Freundschaft mit dem kleinen Volodja. Obwohl noch ein paar Jahre jünger als sie, spielt er ihr gegenüber zuerst den großen Macker, aber ihre jeweilige Not – Volodja wird von seinem Säufervater verprügelt – lässt sie ehrlicher zueinander werden und vor allem: kindlicher. Ihre Gemeinschaft verwandelt wenigstens für Stunden die schreckliche Wohnung in ein gemütliches Nest, in dem sie sich gegenseitig wärmen. „Unschuldsengel“ nennt man kleine Kinder oft, und tatsächlich werden sich Lilja und Volodja in den Schlussbildern des Filmes mit anmontierten Flügeln am Leib wiederbegegnen.

Ihre Geschwisteridylle wird lang davor schon zerstört. Denn Lilja fällt auf einen freundlichen jungen Mann herein, der ihr Arbeit und Liebe in Schweden verspricht und sie dann allein ins Flugzeug setzt. Als sie im gelobten Westen ankommt, wird sie in einer weiteren Plattenbauwohnung eingesperrt, vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen. Wie aus ihrer subjektiven Perspektive, der Untersicht, führt der Film eine ganze Reihe schnaufender, widerlicher Freier vor. Lilja versucht, sich hässlich zu machen und zu fliehen, sie wird verprügelt, kann endlich doch einen unbemerkten Moment nutzen und rennt zur Brücke – wo ihr die Flügel wachsen. Es ist eine unpassende Assoziation, und doch korrespondiert dieses Ende auf bittere und seltsame Weise mit einem der berühmtesten Weihnachts-Feelgood-Filme: In Frank Capras „It’s a wonderful life“ verdient sich ein Engel seine Flügel, indem er James Stewart davon abhält, sich von einer Brücke zu stürzen.

Moodysson möchte, dass „Lilja 4-ever“ die Zuschauer „wie ein Zug überfährt“

„Lilja 4-ever“, der bereits letztes Jahr in Venedig zu sehen war, wurde zum großen Teil mit Begeisterung aufgenommen. Wobei die Begeisterung sich natürlich nicht auf den Filmgenuss bezog, sondern darauf, dass es hier „die eine Geschichte zur Nachrichtenmeldung“ gibt. Der amerikanische Großkritiker Roger Ebert sprach in seiner Rezension die Hoffnung aus, die möglichen Freier einer Lilja würden sich diesen Film anschauen, gab aber zugleich die Vergeblichkeit solch frommen Wünschens zu. Die Zwiespältigkeit des Films ist damit allerdings ganz gut beschrieben: Vor allem möchte man haben, dass ihn sich „die anderen“ angucken.

Was für „die einen“ aber unweigerlich heißt: „Lilja 4-ever“ bestätigt in vielem das, was sie zu kennen und zu wissen glauben: eben jenes Schauermärchen über die verfallenen Sozialstrukturen Osteuropas und die unappetitlichen Praktiken des internationalen Sexgeschäfts. Und umso einleuchtender wirkt dieses Bild, da Moodysson in seiner filmischen Darstellung des „Irgendwo in der ehemaligen Sowjetunion“ im Grunde genau an jenes antikommunistische kollektive Unbewusste anschließt, das niemand besser als Don Siegel mit seiner „Invasion der Körperfresser“ erfasst hat: Auch die Menschen, die Lilja umgeben, sind bloße menschliche Hüllen, sie agieren wie Roboter, zu keiner Regung des Mitleids oder Erbarmens mehr fähig. Denn nicht nur, dass ihre Mutter sie im Schlamm der Wagenspur, in dem sie davonfährt, zurücklässt, sie sagt sich aus dem reichen Amerika auch noch offiziell von ihr los; die Tante empfiehlt ihr, die Beine breit zu machen, von der besten Freundin wird sie verraten und von den Nachbarjungs vergewaltigt.

Dass Moodyssons Film trotz dieser fast unmäßigen Anhäufung von Schlechtigkeiten als Erzählung über die Realität genommen wird, ist seiner Poetik des Elends zu verdanken: dem Blick für das Spezifische, mit dem er besonders die Szenen der Jugendlichen untereinander lebendig und frisch inszeniert. Vor allem aber ist es die Kraft seiner Hauptdarstellerin Oksana Akinshina, die den Film aus den ausgetretenen Pfaden der Martyriumsgeschichte zu holen vermag. Ihr Gesicht zieht den Zuschauer in Bann, ein lebhafter Spiegel eines trotzigen Eigenwillens, der noch in der aussichtslosesten Situation das Träumen vom Besseren nicht aufgeben will. Und in diesem beharrlichen Träumen ist ihre Lilja so sehr noch Mädchen und eben noch nicht junge Frau, dass die sexuellen Übergriffe auf sie noch gröber, noch verbrecherischer erscheinen.

Moodysson hat mit seinem Film wahrscheinlich weniger die gültige Geschichte zu den Verbrechen des Frauenhandels auf die Leinwand gebracht als vielmehr mit dem Gesicht der Lilja eine Leidensikone geschaffen, die sich bestens zum Spendensammeln eignet. Wer wollte dagegen ernsthaft etwas sagen; zumal vor Weihnachten.