Der Blues der Zeit

Erst ein Kind der goldenen Zwanziger, später der Erfinder der schwarzen Serie: Heute wäre der Krimi-Autor Cornell Woolrich 100 Jahre alt geworden

VON GERRIT BARTELS

Es sollte zwar in erster Linie ein Seitenhieb auf Alfred Hitchcock sein, ein kleines Muskelspiel auf Augen- und Klassikerhöhe, als Woody Allen vor zehn Jahren in einem Spiegel-Interview äußerte, nicht viel von dessen Film „Das Fenster zum Hof“ zu halten: „Die Story von Cornell Woolrich ist so brillant, dass jeder Trottel damit etwas hingekriegt hätte.“ Trotzdem hob Allen mit seinem Lob einen Autor wie selbstverständlich in den Rang eines Klassikers, der immer im Schatten von Raymond Chandler und Dashiell Hammett stand und dessen Kurzgeschichten und Romane nie so bekannt wurden wie ihre nicht minder zahlreichen Verfilmungen: neben Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ insbesondere Truffauts Verfilmungen der Woolrich-Romane „Die Braut trug Schwarz“ und „Der Walzer in die Dunkelheit“.

Woolrich war kein Stilist wie Chandler und nicht so brutal schnörkellos wie Hammett, doch dafür ein sensibler Menschenkenner, der tief hinab in die Psyche seiner Figuren zu steigen wusste und deren Ängste, Zweifel und Obsessionen filmreif ausleuchtete. Dazu verstand er es, nicht selten tatsächlich brillante Storys zu entwickeln, zuweilen auch recht abstruse, Storys, die genauso verschlungen wie spannend waren. Das Ambiente der Romane ist zumeist düster, irgendwo zwischen Gosse, Tanzclub und am Rande der jeweils erträumten Bürgerlichkeit angesiedelt, und Woolrichs Sicht auf die Welt eine leicht hoffnungslose, manchmal desperate, manchmal kämpferische.

Verkörpert wird diese Weltsicht nicht in sympathisch zynischen Private-Eye-Figuren wie Marlowe oder Spade, sondern in Menschen, die man heute als Modernisierungsverlierer bezeichnen würde: kleine Leute, die traurig und verloren wirken; die kaum noch auf das kleine Glück zu hoffen wagen, Menschen wie die junge Helen in „Ich heirate einen Toten“: „Sie war etwa neunzehn. Trostlose, hoffnungslose neunzehn, keine leuchtende, glänzende.“

Zu allem Überfluss finden sich Woolrichs Figuren dann in scheinbar ausweglosen Situationen wieder oder sind in undurchsichtige Intrigen verstrickt: der Angestellte einer Maklerfirma, Scott Henderson, dessen Frau in dem Roman „Phantom Lady“ ermordet wird und der als Hauptverdächtiger gilt. Sein Schicksal hängt von einer anderen Frau ab, mit der er zur Zeit des Mordes zusammen war, nur ist diese spurlos verschwunden; der brave Frank Townsend, der in „Der schwarze Vorhang“ an Gedächnisschwund leidet und ebenfalls beschuldigt wird, den Jahre zurückliegenden Mord an seiner Geliebten begangen zu haben; die junge Madeline, die sich in „Die Nacht trägt Schwarz“ umbringen will, sich anders besinnt und beim Wegwerfen des Revolvers aus Versehen eine andere Frau tötet.

Sie alle laufen mit der Zeit um die Wette – in einer Welt, in der sie sich nicht mehr zurechtfinden, und sie alle sehen sich einer unbekannten Macht gegenüberstehen, „einer schemenhaften, gestaltlosen Gefahr“, die sie fest im Griff hat, für sie aber nicht wirklich greifbar ist – Kafka lässt grüßen, auch Poe. Verständlicher noch wird dieses stetig wiederkehrende Grundmuster der Woolrich-Romane vor dem Hintergrund der Zeit, in der die Großzahl von ihnen entstand, den depressionsgeplagten Dreißiger- und Vierzigerjahren in den USA. Und selbstverständlich auch vor dem Hintergrund von Woolrichs Biografie. So hatte Woolrich zwar durchaus Erfolg und bekam Anerkennung, doch mit den Jahren manövrierte er sich in eine immer größer werdende Einsamkeit hinein: „Ich pflegte meine Einsamkeit. Ich genoss mein Selbstmitleid. Und, um ehrlich zu sein: Einsamkeit passte wunderbar zu meiner Arbeit“, schrieb er in seiner nur Fragment gebliebenen Autobiografie „Blues For A Lifetime“.

Geboren am 4. 12. 1903 in New York, wächst Woolrich nach der Scheidung der Eltern bei seinem Vater in Mexiko City auf. Noch als Teenager kehrt er nach New York zu seiner Mutter zurück und verbringt hier die wahrscheinlich glücklichsten Jahre seines Lebens. „Als echtes Kind der Zwanzigerjahre“, als ein Kind des genauso glamourösen wie oberflächlichen Jazz Age bezeichnet er sich später, und als solches veröffentlicht er Mitte der Zwanziger zwei stark von F. Scott Fitzgerald beeinflusste Gesellschaftsromane, „Cover Charge“ und „Children of The Ritz“. Letzterer wird in Hollywood verfilmt und trägt ihm ein Angebot als Drehbuchautor ein. Nach mehreren eher minder erfolgreichen Pat-Hobby-Jahren in Hollywood, wo er auch eine rätselhafte Ehe mit der Tochter eines Filmmagnaten eingeht, obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon von seiner Homosexualität weiß, kehrt er Anfang der Dreißigerjahre abermals zu seiner Mutter zurück.

Gefangen in einer „bizarren Hassliebe“ (so sein Biograf Nevins), beginnen Mutter und Sohn zu reisen, leben in Folge aber in New York in heruntergekommenen Absteigen wie dem Hotel Marseilles – die Wirtschaftskrise hat sie beide voll erwischt. 1934 begann Woolrich Detektivgeschichten für Pulpheftchen wie Detective Fiction Weekly oder Black Mask zu schreiben, um schließlich in den Vierzigerjahren fast jährlich einen Roman zu veröffentlichen, die so genannte schwarze Serie, häufig verfilmte Romane wie „Der schwarze Vorhang“, „Das schwarze Alibi“ oder „Rendevous in Schwarz“. Auffällig darin: das Übermaß an starken Frauenpersönlichkeiten, etwa die Frau, die in „Der schwarze Engel“ gegen alle Widerstände die Unschuld ihres Mannes zu beweisen sucht. Oder die Femme fatale in „Walzer in die Dunkelheit“, die dem gescheiterten Unternehmer Louis Durand den Kopf verdreht.

Nicht ganz zufällig endete Woolrich überbordende Produktion mit der Krankheit der Mutter in den Fünfzigerjahren und ihrem Tod 1957. Woolrich, der an Diabetes litt und wie ein Schlot rauchte, ergab sich dem Suff und erkrankte an schweren arteriellen Verschlussstörungen. Als ihm schließlich ein Bein amputiert werden musste, holte das Leben endgültig seine Literatur ein: Wie der Ich-Erzähler im „Fenster zum Hof“ verbrachte Woolrich sein letztes Lebensjahr im Rollstuhl. Nicht einmal der New Yorker Premiere des Truffaut-Films „Die Braut trug Schwarz“ mochte er mehr beiwohnen – ein genuin einsamer, dem Tode geweihter Mann, der zumindest sein Ziel erreicht hat, „noch ein klein wenig länger am Leben zu bleiben, nachdem ich schon längst gestorben war“.