„Die Freiheit ist noch kein Glück“

Die Schriftstellerin Polina Daschkowa kennt in Russland keine Elite, die diesen Namen verdient. Zur Wahl will sie nicht gehen – schuld sind die Beamten

INTERVIEW BARBARA OERTEL

taz: In Russland wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt. Plötzlich stirbt ein bekannter Politiker, kein Unterstützer Putins, der am Vorabend in einer Talkshow noch ganz frisch aussah. Was wäre Ihr erster Gedanke?

Polina Daschkowa: Wenn jemand stirbt, tut es mir natürlich um den Menschen Leid. Sie wollen, dass ich sage, das vielleicht Putin dahinter steckt? Das werde ich nicht sagen. Das wäre wirklich eine abwegige Idee, etwas für Dummköpfe. Politische Konkurrenten werden eleganter aus dem Weg geräumt.

Wie zum Beispiel?

Indem man diese Person lächerlich macht. Das ist die beste Art. Kompromat (kompromittierendes Material, d. Red.), das funktioniert bei uns schon nicht mehr. Denn je mehr Dreck über jemanden ausgekippt wird, desto mehr bemitleidet man diesen Menschen. Dass jemand lächerlich gemacht wird, dafür sorgen schon unsere Wahlkampfmanager. Das zeigen ja die Kampagnen, da stehen die Politiker für Joghurt, Pepsi, Snickers. Eine gute Variante ist, einem Politiker möglichst dumme Manager zur Seite zu stellen, die versuchen, ihn in jeder Hinsicht als bestmöglichen Politiker darzustellen. Das reicht, um aus ihm einen Idioten zu machen.

Das ist nicht gerade eine schmeichelhafte Charakteristik der politischen Elite.

Was für eine politische Elite? Die gibt es im eigentlichen Sinne noch nicht, obwohl sich diese Leute so nennen. Die politische Elite in Russland ist vollständig zerstört worden, genauso wie der Begriff. Deshalb ist es unmöglich, binnen 15 Jahren so eine Elite schaffen zu wollen. Die heutigen Politiker eint nur eins: der Durst nach Macht. Das ist nicht die beste Eigenschaft eines Menschen.

Man hat Sie oft als Chronistin des Übergangs vom alten zum neuen Russland bezeichnet. Wodurch zeichnet sich diese Übergangsperiode aus?

Durch ein Verlorensein, eine Kopflosigkeit, die Angst vor der Möglichkeit, zu wählen. Viele Jahre lebten die Menschen ohne die Möglichkeit, zu wählen. So gab es nur eine Sorte Wurst – und die Menschen waren glücklich, dass es sie gab. Es gab eine Partei – und die Menschen waren zufrieden, dass es nur diese eine Partei gab. Im persönlichen Leben konnte man wählen, den Mann, die Frau oder Freunde, doch in allen anderen Bereichen war das sehr begrenzt. Worin man fahren, was man kaufen und sagen konnte. So sagten fast alle das Gleiche – zumindest öffentlich. Alle dachten nur an den Moment, in dem es endlich freie Wahlen geben würde. Doch die Freiheit ist noch kein Glück, kein Paradies. Das löste dann so ein Gefühl der Kränkung und des Verrats aus. So wie bei einem Kind, das eine leere Pralinenschachtel geschenkt bekommt.

Diese Probleme haben auch andere Länder. Gibt es russische Besonderheiten?

Dem russischen Charakter ist etwas Extremes eigen. Entweder ist alles ganz schlecht, oder es ist ganz wunderbar. Für uns ist es schwierig, ein inneres Gleichgewicht zu finden und zu begreifen, dass es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch Grau gibt. Die Übergangsperiode besteht aus den Momenten, in denen man sich das Bild einer anderen Welt erschafft. Dass wir solche Maximalisten sind, macht das Ganze so schwierig.

In Ihren Romanen zeichnen Sie ein breites Spektrum der russischen Gesellschaft. Dort kommt fast alles vor: neue Russen, Mafiosi, aber auch Obdachlose – die Ränder der Gesellschaft. Was hält diese Gesellschaft zusammen? Gibt es noch gemeinsame Werte?

Einerseits gibt es von allen Seiten Versuche, uns Werte zu oktroyieren, andererseits wählt sich die Gesellschaft ihre Werte selbst. Die Leute sind dieser ganzen Formeln überdrüssig. Die Vorstellung, eine russische nationale Idee zu formulieren, ist unsinnig und unnötig. Jetzt wächst eine gesunde neue Generation heran. Das sind die 15- bis 20-Jährigen. Sie wollen einfach normal leben, sich ausbilden lassen, eine Familie und materiellen Wohlstand. Die heute 30-Jährigen sind eine verlorene Generation. Als sie aus der Schule kamen, herrschte die Meinung vor: Wozu eine Ausbildung, wenn man auf Basaren viel Geld verdienen oder gleich kriminell werden kann. Den Jüngeren ist klar, dass es so nicht geht. Wer einen würdigen Platz in der Gesellschaft will, braucht eine Ausbildung, Können und Wissen.

Die Achtung von Recht und Gesetz ist ein Wert. In Russland übertritt der Staat selbst dauernd das Gesetz. Wie stehen die Chancen, dass diese Werte verinnerlicht werden?

Das war in Russland immer ein Problem. Schon unter den Zaren kassierten die Beamten Schmiergelder und lebten davon. Deshalb wurden ja viele Beamte. Und die Gesetze waren immer so formuliert, dass der Beamte zu seinem Schmiergeld kam. Das ist eine alte Tradition. Die Alternative dazu ist, dass die Menschen auf Distanz zum Staat gehen. Mir hat noch nie ein Beamter geholfen. Ich würde auch nicht auf die Idee kommen, so jemanden um Hilfe zu bitten. Die Beamten leben für sich. Wenn es die Möglichkeit gibt, jemanden übers Ohr zu hauen, tun sie es. Das ist ihr Wesen. Was Gesetze angeht, da bin ich skeptisch. Hier gibt es so etwas wie ein Gesetz der Sittlichkeit, in jedem Menschen, jeder Familie. Das ist eine innere Sittlichkeit. Je mehr Menschen mit diesem inneren sittlichen Gesetz es gab, desto besser ging es Russland. Von oben wird man kaum etwas verändern können.

Früher haben Sie Gedichte geschrieben. Warum sind Sie auf Kriminalromane umgestiegen?

Gedichte – das ist Jugend, ein ganz anderer Lebensrhythmus. Es gibt Momente, da will man etwas verändern. Ich wollte auf einmal Prosa schreiben. Ich habe es versucht und hatte Erfolg. Meine Romane sind keine Krimis im klassischen Sinne. Das wäre zu wenig, nur Morde, Ermittlungen, eine Scharade. Natürlich ist eine Linie des Romans immer eine Kriminalgeschichte, aber eben nur eine. Nur von Krimis zu reden, das tun die Kritiker, weil es für sie leichter ist.

Sie haben bisher rund 30 Millionen Exemplare ihrer Bücher verkauft. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Ein Grund ist, dass ich es mir nie zur Aufgabe gemacht habe, zu gefallen. Ich habe versucht, ganz natürlich zu bleiben. Auch bin ich nicht durch die Mühlen gedreht worden, wie viele Schriftsteller in Russland. Ich meine, für Geld durch alle Medien geschleift zu werden und ständig aufzutreten. So hatte ich keine Gelegenheit, mit meiner ständigen Präsenz jemandem auf die Nerven zu gehen. Ich bin unabhängig, schulde keinem etwas, nur meinen Lesern. Dieses Gefühl der Freiheit gibt mir diese Leichtigkeit und erweckt den Eindruck von Wahrheit, die die Menschen in meinen Romanen wieder finden.

Wie lautet Ihre Wahlprognose?

Ich habe keine. Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt wählen gehe. Der Grund ist ein Streit mit der örtlichen Verwaltung, den alle Bewohner unseres Hauses haben. Um das Problem zu lösen, bräuchte es ehrliche Beamte. Doch die rühren keinen Finger. So ist das Haus zur Geisel von Banditen geworden. Das würde in keinem zivilisierten Land vorkommen. Diese Hilflosigkeit und Prinzipienlosigkeit machen mich fertig. Und da soll ich meine Stimme abgeben?