Schau mir in die Augen, Kleines!

Im Forschungsgehege von Soziobiologie, Ethologie und Feuilleton: Cord Riechelmanns Tiergeschichtensammlung „Bestiarium – Der Zoo als Welt, die Welt als Zoo“

von TIM BARTELS

Ein Dogma der Biologie besagt: Nichts ist unnütz, alles erfüllt einen Zweck. Warum beispielsweise ist das Fell der Zebras schwarz-weiß gestreift? Damit, so dachte man früher, würden die Steppentiere in der aufgeheizten und flirrenden Luft von ihren Fressfeinden nicht mehr wahrgenommen werden. Heute weiß man es besser: Nicht gegen Hyänen und Löwen schützt sich das Zebra mit seiner gebänderten Fellfarbe, sondern gegen die Tsetsefliege, die durch ihren Stich tödliche Parasiten übertragen kann. Das Insekt vermag das Streifenmuster der Tiere offenbar nicht zu erkennen, fliegt vorbei und belästigt ein anderes Opfer.

Solche und andere Phänomene erzählt Cord Riechelmann in „Bestiarium“, seiner Sammlung von Tiergeschichten aus den Berliner Zoos – ungeachtet der Tatsache, dass sich ein Zebra in einem Zoo natürlich nicht mehr vor Tsetsefliegen in Acht nehmen muss. Doch „Bestarium“, benannt nach einer Kolumne, die Riechelmann einst für die „Berliner Seiten“ der FAZ schrieb, bietet nicht nur mehr als die Stelltafeln vor den Gehegen der Zoos. Es stellt gewissermaßen das Gegenmodell zur Berichterstattung der lokalen Presse über Zootiere dar.

Zwar gibt es kaum eine Redaktion, die nicht die „Sensation“ einer Elefantengeburt auf den Rang eines Aufmachers hebt. Der Redakteur weiß um die Sympathien, die man den Dickhäutern entgegenbringt, und wie gut sich so ein Text bebildern lässt. Nicht wenige Leser werden sich nach der Lektüre sofort mit Kind und Kegel aufmachen, um der Aufzucht des Tierbabys beizuwohnen.

Aber dementsprechend wird auch nur von den tierischen Popstars berichtet: von Kiri, dem indischen Elefantenkind, das von seiner Mutter abgewiesen wird und stirbt. Oder von der sexmüden Pandabärin Yan Yan, die sich mit ihrem Artgenossen Bao Bao partout nicht paaren will. Leider sind die Geschichten über Polly, Hoover, Sira, Frodo & Co. immer aus denselben Zutaten gestrickt. Der menschliche Blick darf das Tier nicht verfehlen, dessen Schicksal muss betroffen machen. Über das soziale Verhalten der Tiere erfährt man meist nichts.

Allein die „Berliner Seiten“ der FAZ bemühten sich um eine etwas präzisere Rezeption des Paralleluniversums Zoo. Nicht nur standen dort die Fütterungszeiten gleichberechtigt neben dem Programm für Rockkonzerte und Theateraufführungen. Einmal wöchentlich berichtete darüber hinaus Cord Riechelmann in seiner „Bestarium“-Kolumne umfassend aus der Welt der Zoologischen Gärten, speziell dem Westberliner Zoo und seinem weitläufigeren Pendant im Ostteil der Stadt, dem Tierpark Friedrichsfelde.

In seinem nun in Enzensberger Anderer Bibliothek veröffentlichten Buch geht es zwar alphabetisch zu, von Afrikanischer Elefant bis Zwergflusspferd. Doch ruft Riechelmann, der studierte Verhaltensbiologe, hier nicht bloß lexikalisches und zoologisches Wissen ab. Munter geht es hier im zumeist feuilletonistischen Plauderton durchs Forschungsgehege der Soziobiologie und Ethologie. Man erfährt etwa, dass die weiblichen Argusfasane einen Partner mit Behinderung bevorzugen. Der Grund: „Das Männchen signalisiert damit, dass es so gut ist, dass es trotz dieses Handicaps überleben kann.“

Verblüffend auch das Blickverhalten von Gorillas: Diese in so genannten Haremsgruppen organisierten Tiere schauen ihrem Gegenüber aus nächster Nähe sekundenlang in die Augen. Sie überprüfen damit, ob sie jemanden wiedererkennen. Das gilt auch für den Menschen. Denn Gorillas haben ein „erstaunliches Langzeitgedächtnis für Personen. Besonders mit den beiden älteren Gorillafrauen um Knorke werden Stammbesucherinnen im Zoo, was die Blicke betrifft, ähnliche Erfahrungen gemacht haben“, schreibt Riechelmann. Auch Emus erkennen treue Zoogäste wieder. Mit neugieriger Aufmerksamkeit honorieren die nach dem Strauß größten flugunfähigen Vögel die herzliche Begrüßung eine älteren Dame. Der Autor ist Zeuge, er steht daneben. So begibt sich der Zoofreund immer wieder unters Publikum, wandert von Gehege zu Gehege, von Käfig zu Käfig, beobachtet das – bisweilen gestörte – Verhalten der eingesperrten Tiere und registriert en passant die blühende Kommunikation zwischen Mensch und Zootier.

Erst dann tritt der Ethologe Riechelmann auf den Plan, der nach Literaturrecherche und selbst ausgeübter Verhaltensforschung weiß, wie es um die Tiere in freier Wildbahn bestellt ist, wie sie untereinander wirklich „funktionieren“. Hier räumt der Wissenschaftler dann mit so manchem Vorurteil auf, nimmt Elstern und Krähen in Schutz, denen man die Dezimierung großer Vogelbestände nachsagt. Alles Unfug, meint der Experte. „Es gibt keinen einzigen stichhaltigen wissenschaftlichen Hinweis auf den Zusammenhang der Bestandsgrößen kleinerer Singvögel und der Häufigkeit von Rabenvögeln in ihrer Nähe.“

Für die Ablehnung des kleinen Kiri gibt es dagegen eine natürliche Erklärung: Nicht die „fehlende Liebe“ der Mutter führte zum Tod des Elefantenkalbs, sondern mangelnder Anschauungsunterricht. Die Elefantendame ignorierte ihren Nachwuchs, weil sie, wie in wilden Herden üblich, den Umgang mit Kindern nie gelernt hatte. Im Berliner Zoo ist nämlich jahrzehntelang kein Elefant geboren worden.

Cord Riechelmann: „Bestiarium – Der Zoo als Welt, die Welt als Zoo“. Die Andere Bibliothek, Eichborn, Frankfurt am Main 2003, 348 Seiten, 27,50 Euro