Wanderer zwischen zwei Welten

Anfang des 20. Jahrhunderts revolutionierte der junge Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn die Psychiatrie, indem er Zeichnungen und Malereien von Patienten als genuin künstlerische Arbeiten sammelte. Im Moment zeigt die Heidelberger Sammlung Prinzhorn das Gesamtwerk August Natterers

Beachtung fand die „Irrenkunst“ erst, als die Surrealisten sie entdeckten

von URSULA WÖLL

Malen, um zu überleben, wenn auch notgedrungen in einer konstruierten Realität. Erstaunlich viele psychiatrische PatientInnen schufen Werke von künstlerischem Rang, die ihnen allerdings nicht die erhoffte Anerkennung ihres Umfeldes brachten, sondern in den Krankenakten landeten. Dass sie überdauerten, ist vor allem dem jungen Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn zu verdanken, der von 1919 bis 1921 an der Heidelberger Universitätspsychiatrie arbeitete und PatientInnenarbeiten aus vielen Anstalten des deutschsprachigen Raumes sammelte. Öffentliche Beachtung fand diese „Irrenkunst“ erst, als die Surrealisten auf sie aufmerksam wurden.

Die Sammlung Prinzhorn enthält heute etwa 5.000 Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen, die meisten aus der Zeit Prinzhorns, in der ruhig stellende Neuroleptika und angeleitete Maltherapien noch unbekannt waren. Seit zwei Jahren besitzt sie ein eigenes Museum, in dem nun in einer Sonderausstellung das gesamte Oeuvre August Natterers präsentiert wird.

Berühmt wurde Natterer durch seine halluzinatorischen Zeichnungen, sein „Wunderhirthe“ hat mittlerweile fast Kultstatus. Auch seine Arbeit „Weltachse mit Hase“, die titelgebend für die Ausstellung war, ist in einer irrealen Welt angesiedelt. Daneben werden ganz profane Blumen- und Schmetterlingsgemälde und penible Konstruktionszeichnungen seiner technischen Erfindungen sowie Briefe an Angehörige oder fantasierte „Gemahlinnen“ und eloquent formulierte Beschwerden an die Anstaltsbehörden präsentiert. Die Kuratorin Bettina Brand-Claussen wollte keine willkürliche Auswahl treffen und der Persönlichkeit Natterers umfassend gerecht werden.

26 Jahre, von 1907 bis zu seinem natürlichen Tod 1933, war dieser gegen seinen Willen in zwei württembergischen Heilanstalten eingesperrt. Das „erste“ Leben des ambitionierten schwäbischen Elektrotechnikers war von durchaus bürgerlicher Reputation. Er hatte in Würzburg ein eigenes Geschäft eröffnet und lieferte sogar an Wilhelm Röntgen. Um sich über Neuheiten zu informieren, hatte er die Weltausstellungen in Chicago und Paris besucht. Er war verheiratet, doch ging er, „um seine zarte Frau vor dem Gebären zu bewahren“, zu Prostituierten. Das muss dem katholisch Erzogenen enorme Schuldgefühle bereitet haben.

Als dann die Geschäftsaufträge ausblieben, weil die Universität einen billigeren Schlosser eingestellt hatte, kam Existenzangst hinzu. Die Kluft zwischen Ich-Ideal und realem Abstieg empfand Natterer wohl als individuelles Versagen. Der schwäbische Tüftler stürzte sich immer hektischer auf Erfindungen, die aber keinen Erfolg hatten. 1907 kam es zum körperlichen und seelischen Zusammenbruch und zu Halluzinationen.

Seine Angehörigen brachten ihn in die Psychiatrie, der er nicht mehr entkam. Ein Circulus vitiosus entstand. Um seine totale Machtlosigkeit und sein Ausgeliefertsein zu kompensieren, steigerte sich Natterer immer tiefer in seine Wahnwelt, in der er als Welterlöser und Napoleon IV. seine Allmacht fantasierte. Das wiederum begründete den Verbleib in der Anstalt. Er lebte nun quasi in zwei Welten. Die reale forderte ohnmächtige Anpassung an die Anstaltsregeln, drohte doch die Strafe mehrmonatiger Bettruhe. Als qualifizierter Techniker reparierte Natterer Uhren und erfand nüchterne Maschinen auf dem Papier. Seine Traumwelt dagegen sollte die äußere und innere Bedrängnis bannen, sie gewinnt zwar ebenfalls mit Zirkel und Lineal, aber in assoziativen Konfigurationen Gestalt. Sein zierlicher Wunderhirte mit Stab und Wolfshund steht auf einem waagrechten Bein, dessen Fuß in einen Frauenkopf mit üppig herabhängenden Haaren übergeht. Eine Schlange, in deren Leib ein weibliches Genital gezeichnet ist, kann ihm nichts anhaben. Das Ganze schwebt im leeren Raum, dessen Blau das Sakrale der Bildsphäre noch steigert. Im Gespräch mit Prinzhorn, der ihn mehrmals besuchte, äußerte Natterer: „Der Hirt bin ich, der gute Hirt – Gott!“

Mit akribisch feinen Strichen ist auch die „Weltachse mit Hase“ ausgeführt. Der auf einem zylindrischen Körper mit Pferdefüßen hockende Hase symbolisiert „das zerbrechliche Glück“. Über ihm schweben eine Wolke und ein Leidenskelch. Auf der „Hexenkopf-Landschaft“ mutiert die Nachthaube der Hexe jenseits der Rüsche aus Bäumen zu einem Totenschädel. Das Blatt ist doppelseitig bemalt, um Transparenzeffekte zu ermöglichen.

Sie spiegeln Natterers Faible für Metamorphosen. Er war sich wohl auch seiner Doppelexistenz zeitweise bewusst, da er einmal versprach, nicht mehr Napoleon IV. zu sein, wenn man ihn nur entlasse.

Bis 28. März, Sammlung Prinzhorn, Katalog 33 Euro