Bücher zur Sonne, zur Freiheit

„Bookcrossing“ findet immer mehr Anhänger: Leseratten lassen Bücher absichtlich irgendwo liegen und vermerken den Auslegeort auf einer Website, damit sie neue Leser finden. Im Internet kann man den Weg seines Buches verfolgen

KÖLN taz ■ Das Buch ist gelb, hat zwei Ärmchen und Beinchen, und sobald man den Mauszeiger auf dem Bildschirm in seine Nähe bringt, fängt es fröhlich an, auf der Stelle zu marschieren. Eine Textzeile erläutert: „Dieses Buch befindet sich in der Wildnis.“ Und der geneigte User begreift sehr schnell, dass es sich dort sichtlich wohl fühlt.

Dass sich Bücher tatsächlich „wohlfühlen“ können, dafür ist nicht zuletzt Rudi Ferrari verantwortlich. Denn der Kölner Informatiker hat zusammen mit anderen Lesefans einen Trend nach Deutschland geholt, der in den USA unter dem Namen „bookcrossing“ seit über zwei Jahren mehr und mehr begeisterte Anhänger findet. „Die ganze Welt als Bibliothek“, lautet der Anspruch der Büchertauscher. „Durch die Tauschbörse soll es einfacher werden, an Literatur zu kommen“, sagt Ferrari.

Das Prinzip von Bookcrossing ist eigentlich simpel: Anstatt Bücher zuhause im Regal verstauben zu lassen, werden sie in die „Wildnis“ ausgesetzt. Die Bookcrosser legen sie auf eine Parkbank, ins Café, die Straßenbahn oder den Bahnhof und vermerken den Auslegeort auf der Website www.bookcrossing.com. Dort erscheinen die Bücher damit als „freigelassen“. Wer das Buch dann einsammelt, nimmt es mit nach Hause, meldet das ebenfalls der Bookcrosser-Homepage und – so der Idealfall – entlässt es nach der Lektüre wieder in die Freiheit. Wo es auf seinen nächsten Finder wartet.

Für Susanne Weigand, die unter dem Pseudonym Falzbein Bücher aussetzt, hat Bookcrossing die Spannung einer Schnitzeljagd. „Ich kann den Weg meines Buches über die ganze Welt verfolgen“, sagt die 45-jährige Kölnerin. Denn jeder, der ein freigelassenes Buch findet und der Bookcrossing-Webseite den Entdeckungsort mitteilt, hinterlässt eine Spur. Ein Krimi, den Susanne Weigand am Stuttgarter Hauptbahnhof hat liegen lassen, meldete sich nach drei Wochen sogar aus Guatemala.

Die Tauschbörse hat aber noch andere Nebeneffekte: „Seit ich bei Bookcrossing mitmache, lese ich mehr“, erzählt Alexander Esser, Pseudonym Arcon. Der 26-Jährige fährt täglich mit dem Lastwagen von Köln ins Ruhrgebiet, in den Wartepausen hat er genügend Zeit zum Lesen – und zum wieder Freilassen. Durch die Buchtauschbörse befasse er sich mehr als früher mit Literatur. „Mein Lesespektrum hat sich enorm erweitert“, erzählt er.

Das Spektrum der getauschten Bücher kann in der Tat breiter nicht sein. So findet sich neben dem „Saarländischen Schimpfwörterbuch“ auch das Vertriebenen-Drama „Nirgendwo ist Poenichen“, das laut Website nahe der Severinstorburg „zwischen dem Geländer der steinernen Treppe“ liegen soll. Und der ballonseidene Erotikschinken „Glutheiße Tage“ wartet in einer Ehrenfelder Bar ebenso auf einen Finder wie „Das Chagrinleder“ von Balzac.

Wer mit eingefleischten Bookcrossern spricht, bekommt den Eindruck, es handle sich bei den Tauschobjekten eigentlich gar nicht um Bücher. Sondern um kleine Wesen, die im Bücherregal zahm und faul geworden sind und die man „auswildern“ oder „freilassen“ muss, nach denen man anschließend aber auch jagen kann und sie am Ende wieder einfangen darf. Damit wird die Welt zwar nicht zur Bibliothek, aber immerhin zum Schauplatz der wohl weltgrößten Schnitzeljagd für Erwachsene – die so nebenbei auch wieder Platz im Regal schaffen. Viele Bücher melden sich allerdings auch nicht mehr zurück – sei es, weil niemand sie entdeckt, oder aber, weil der Finder das Buch nicht auf der Homepage der Bookcrosser vermerkt. So ist inzwischen auch das „Tagebuch einer Gefühlsidiotin“ verschollen. Bereits Mitte November hat es RubySoho in die Straßenbahn Linie 1, „hinterer Waggon“ gelegt – bis jetzt ohne Rückmeldung. Vermutlich pendelt es noch immer zwischen Bensberg und Weiden hin und her. Und fühlt sich wohl, in seiner neuen Freiheit.

CHRISTOPH SCHEUERMANN

Im Internet: www.bookcrossing.com und www.bookcrossers.de