Woody Allen lebt hier nicht mehr

Viele Filme auch bedeutender Regisseure kommen gar nicht mehr in die deutschen Kinos. Stimmt also die kulturpessimistische Diagnose, dass die Multiplexe mit ihren Blockbustern mittlerweile das Arthouse gefressen haben? Nein, sie stimmt nicht!

Heute gibt es 50 Arthouse-Leinwände in Berlin. Vor zehn Jahren gab es nur 30Die Nouvelle Vague kam auch nur über Mischkalkulationen ins deutsche Kino

VON EKKEHARD KNÖRER

„Hollywood Ending“ lautet der Titel des nun auch schon vorletzten Films von Woody Allen. Er scheint freilich eher das gar nicht Hollywood-gemäße Ende einer langen Liebesbeziehung zu markieren – der zwischen dem New Yorker Stadtneurotiker und dem ihm einst ergebenen deutschen Publikum. „Hollywood Ending“ ist der erste Woody-Allen-Film seit Jahrzehnten, der es nicht in die deutschen Kinos geschafft hat. Auch „Anything Else“, das beim Filmfestival von Venedig im September vorgestellte jüngste Werk, hat hierzulande noch keinen Verleiher, während er in der Schweiz soeben anlief.

Allen ist wohl der prominenteste Regisseur, dem es so ergeht, aber er ist kein Einzelfall. So scheint David Cronenbergs Film „Spider“ in Deutschland genauso ohne Chance zu sein wie die letzten Filme von Hal Hartley oder der noch für „Beau Travail“ zu Recht hymnisch gelobten Französin Claire Denis. Die Reihe ließe sich fortsetzen und mit der Tatsache, dass sämtliche der genannten Filme in Frankreich und in der Schweiz reguläre Kinostarts hatten, rasch zur kulturpessimistischen Diagnose addieren, dass Deutschland sich auf einem Kurs in Richtung filmkünstlerische Provinz befindet. Solche Diagnosen sind in der Tat en vogue: Früher, so ist zu hören, war alles besser, die Multiplexe mit ihren Blockbustern haben das Arthouse gefressen.

Als Schuldige werden dann gern genannt: das Fernsehen, weil es die Programmplätze für anspruchsvolle Filme streicht; die Verleiher, weil es ihnen an Wagemut und Leidenschaft fehlt; die Kritiker, weil sie auf sperrige Filmkunst keine Lust haben; und das Publikum, weil es dem abseits vom Mainstream Liegenden keine Chance mehr gibt. Ein Teufelskreis, sollte man meinen, und auf den ersten Blick scheint vieles durchaus zutreffend an den Kassandrarufen. Der Filmkritiker Wolfram Schütte bringt mit seiner Formulierung vom „Mainstream als Quotenzensur“ die Klage der Verleiher auf den Punkt: Mit den Fernsehredaktionen ist zur Refinanzierung riskanter Filmkunstkäufe schon seit längerem nicht mehr verlässlich zu rechnen. Und auch die Besucherzahlen der jeweils noch in Deutschland gezeigten Filme der genannten Regisseure waren durchweg, um das Mindeste zu sagen: enttäuschend, eigentlich sogar ziemlich desaströs.

Mitunter sind die Gründe jedoch recht banal. Christian Suhren vom kleinen Berliner Peripher-Verleih, der noch Claire Denis’ Film „Nénette und Bonie“ in die deutschen Kinos brachte, erklärt: „Ihr neuester Film, ‚Trouble Every Day‘, hat uns nicht gefallen. Wenn man nicht mehr als vier oder fünf Filme im Jahr macht, dann überlegt man sich das ganz genau.“ Für das mit dem Verleih verbundene Filmkunstkino fsk kann Suhren im Übrigen kaum Veränderungen feststellen: „Unsere Besucherzahlen sind seit Jahren geradezu beängstigend stabil. Auch die Altersstruktur ist sich gleich geblieben: Es wachsen durchaus junge Besucher für diese Sorte Kino nach.“

Die Aussage findet sich bestätigt, wenn man konkret nachschaut in der Berliner Kinolandschaft, die in den vergangenen Jahren, wie allgemein bekannt, mit Multiplexen geradezu vollgemüllt worden ist. So findet man an einem beliebigen Tag im November 2003 rund fünfzig Leinwände, die Arthouse- oder jedenfalls keine Hollywood-Mainstream-Produktionen zeigen. Im Jahr 1993: ziemlich genau dreißig. Und 1986 im damaligen Westberlin nicht mehr als zwanzig. Das spricht eigentlich eine klare Sprache, die allerdings so gar nicht kulturpessimistisch aufladbar ist. Gewiss hat es Veränderungen gegeben, vor allem aber in Richtung Diversifizierung.

Neben den Spielstätten von kleinen, radikalen Minderheiten für kleine, radikale Minderheiten wie dem Acud (49 Plätze) oder dem Lichtblick-Kino (32 Plätze) und den Multiplexen, die sich seit Jahren am Rande des Ruins bewegen und mittlerweile zu großen Teilen nach Australien und Kanada verkauft sind, gibt es so etwas wie die Mini-Majors unter den Kinos wie das Filmtheater am Friedrichshain. Hier läuft ein gemischtes Programm, bei dem sich etwa „Hierankl“, „Findet Nemo“ und „L'auberge espagnol“ bestens miteinander vertragen.

Diese insgesamt erfreuliche Lage könnte natürlich auch mit der Hauptstadtwerdung Berlins zu tun haben und sagt über die Lage in den deutschen Provinzen noch nichts aus. Gewiss hat dort eine Strukturveränderung stattgefunden, haben in städtischen Mittelzentren die vollklimatisierten Kinoketten vielen Schachtelkinos den Garaus gemacht. In manchen Städten des Ruhrgebiets beispielsweise ist die Situation mittlerweile katastrophal. Und gewiss kann es Monate dauern, bis ein kleinerer Film, der von seinem Verleih mit drei, vier oder fünf Kopien auf den Weg durch die Republik geschickt wird, in einem der 150 kommunalen oder der vielen sehr engagiert privat betriebenen Kinos zwischen Schwäbisch Hall und Rendsburg landet. Arne Höhne vom kleinen Berliner Verleih Piffl-Medien aber staunte selbst: „Unser Film ‚Die neun Leben des Tomas Katz‘, den in seinem Herkunftsland England der Regisseur selbst in die Kinos bringen musste, ist mit seinen zehn Kopien in nicht weniger als 75 deutschen Städten zu sehen gewesen.“ Eine ähnliche Erfahrung hat Thomas Matlok von dem Verleih Pandora mit dem neuseeländischen Film „Whale Rider“ gemacht: „Auf dem Höhepunkt hatten wir nicht weniger als 130 Kopien im Einsatz. Die sind auf dem Land viel besser gelaufen als in den Städten.“

Dennoch: Früher hätte es nicht passieren können, dass Filme wie „Vendredi Soir“ von Claire Denis oder das fast vollständige Alterswerk eines Regisseurs wie Jean-Luc Godard nicht in die deutschen Kinos kommen. Denkt man jedenfalls, bis man in dem soeben erschienenen Band mit Texten Frieda Grafes zur „Nouvelle Vague“ über die Information stolpert, dass in den späten Sechziger-, frühen Siebzigerjahren die Filme von François Truffaut den Weg in die Bundesrepublik nicht geschafft haben. Oder man stößt zufällig auf einen Leserbrief des damaligen Atlas-Verleihers Hans Eckelkamp an die Zeitschrift film aus dem Jahr 1965, der sein neues, mit manch Kommerziellem vermischtes Programm „Sezession“ gegen das radikalere Kunstwollen eines Redakteurs der Zeitschrift mit den Worten verteidigt: „Es gibt eben in der Verleih-Praxis gewisse Spielregeln, innerhalb derer ich mich bewegen muss.“ Ohne das ökonomisch immer noch gewagte Mischprogramm wären weder Ozus „Reise nach Tokio“ noch der in Venedig damals gar nicht gnädig aufgenommene „Pierrot le Fou“ von Godard überhaupt nach Deutschland gelangt.

Ist also alles wie immer, seit 1965, seit Truffaut? Ist es nur das alte Lied von ästhetischen Kriterien und aufregenden Festivalerfahrungen, die auf die Gesetze des Marktes und die aus Kritikersicht immer ein bisschen zu eingefahrenen Erwartungen des Publikums treffen? Vielleicht nicht ganz.

Was sich nämlich sehr konkret verändert hat im Laufe der letzten Jahre, ist die Struktur des Verleihermarktes. Den Großen mit ihrer Mainstream- und Blockbusterware (von Warner bis Constantin) standen vor wenigen Jahren noch mittelgroße Verleiher gegenüber, die ihr Programm zwischen Widerständischem und Eingängigem austarieren konnten und vor allem: dank Weiterverkauf der Rechte an das öffentlich-rechtliche Fernsehen das Geld hatten, den neuesten Woody Allen zu kaufen und mit der entsprechenden Kopienzahl auf den Markt zu bringen. Diese Mittelschicht ist im Laufe der New-Economy-Blase mit dem Börsengang des einstigen Filmkunstverleihers Kinowelt zerstört worden, vor allem dadurch, dass Kinowelt mit seiner Independent-Filiale Arthaus erst die in den 90ern enorm wichtige Marke Pandora schluckte und dann die Preise auch für Programmkinoware in unbezahlbare Höhen trieb.

Als es mit Arthaus nach dem Börsenabsturz und Beinahe-Bankrott der Kinowelt vorbei war, blieb ein bereinigter Markt zurück, auf dem sich inzwischen neben den Großen eine unübersichtliche Menge sehr kleiner, meist recht spezialisierter Verleiher mit minimalem Finanzhintergrund (und jeder Menge Leidenschaft) tummeln. Deren Stärke sind die Entdeckungen, jedoch nicht die ziemlich teuren Werke arrivierter, aber nicht (mehr) massentauglicher Autoren wie Woody Allen oder David Cronenberg. In der Lücke zwischen Kunst für eher kleines Publikum auf der einen und Mainstreamware auf der anderen Seite erstreckt sich in der derzeitigen Situation ein Niemandsland.

Es lässt sich freilich mit Grund vermuten, dass sich die Lage gerade wieder ändert. So hat sich die zwischendurch nur in der Produktion tätige traditionsreiche Pandora als Verleih wieder gegründet. Nach dem Erfolg mit „Whale Rider“ ist für das nächste Frühjahr das neue Werk des koreanischen Enfant terrible Kim Ki-Duk angekündigt, das mit beinahe 60 Kopien ins Kino kommen wird. „Das ist ein Risiko“, meint Thomas Matlok, „aber wir haben uns bewusst für diese Strategie entschieden. Lieber wenige Filme, die aber mit dem entsprechenden Aufwand.“ Sollte das Experiment gelingen, wäre ein erster Schritt zur Schließung der entstandenen Lücke getan. Die Wette auf ein „Hollywood Ending“ für den deutschen Kinomarkt gilt.