Frische Kräuter aus der Bronx

Nach guter amerikanischer Tradition gehört das Land den Menschen, die sich darauf niedergelassen habenEin Ort, an den sie gehen können, wenn sie aus ihren Hochhäusern treten, deren Gänge nach Urin stinken

AUS NEW YORK SEBASTIAN MOLL

Luis und Aresh sind ein ungleiches Paar. Luis ist ein bulliger Puertoricaner aus der South Bronx, aus seinem schwarzen Unterhemd quellen beeindruckend fleischige, tätowierte Oberarme, und er hat, als wollte er diesen Effekt verstärken, sein Haupt in ein Piratenkopftuch gehüllt. Luis ist ein Guerillero, einer, der alles gesehen, der alles erlebt hat. Sein Freund Aresh ist hager und schmal, und sein rasierter Schädel betont die Konturen seines kantigen Gesichts. Ein scharfer Kontrast, so, wie die beiden da sitzen auf der Holzbank unterm Ahornbaum in einem Garten mitten in der Bronx.

Aresh erinnert ein wenig an Mahatma Gandhi mit seinem orangefarbenen T-Shirt und seinen Sandalen, und das ist nicht ganz ohne Absicht. Der gebürtige Perser, der sich Politaktivist nennt, sieht sich in der Tradition des großen Inders sowie des amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King. Ziviler Ungehorsam und gewaltfreier Widerstand gehören zu den Lieblingsvokabeln des Mannes aus Shiraz. Seine Eltern hatten ihn einst in die USA geschickt, auf dass aus ihm ein Ingenieur werde.

Luis erweckt dagegen nicht den Eindruck, als schrecke er vor Gewalt zurück. „Luis hat viel mitgemacht hier in der Bronx. Er war in einer Gang, hat mit Drogen gehandelt, eine typische Ghetto-Karriere eben“, sagt Aresh. „Wenn sie mich einlochen“, fügt Luis in abgehacktem Latino-Amerikanisch hinzu, „dann wandere ich für lange, lange Zeit hinter Gitter.“

Doch trotz der augenscheinlichen Gegensätze sind sich die Männer auf eine tiefe Art eng verbunden. Der Schlüssel zu dieser Verbundenheit liegt in den beiden Worten: Cabo Rojo.

Cabo Rojo heißt so viel wie roter Machetengriff. Es ist der Name, den Luis seinem Garten gegeben hatte. Ja, seinem Garten, mitten in der South Bronx, an der 158ten Straße, direkt gegenüber dem Garten, in dem die beiden unterm Ahornbaum sitzen. Streng genommen war es natürlich nicht sein Garten, sondern nur eines der vielen leer stehenden Grundstücke in der Bronx.

In den Siebzigerjahren, auf dem Höhepunkt von Bandenkriegen und Drogenhandel, hatte die Stadt das Viertel aufgegeben. Städtische Dienstleistungen wie Polizei oder Feuerwehr gab es nicht mehr, die Müllabfuhr kam selten und keine Bank gab auch nur einen Dollar Kredit für Instandhaltung oder gar Sanierung eines Gebäudes. Viele Häuser brannten damals einfach nieder und kein Mensch scherte sich darum.

Zusammen mit ein paar Freunden besetzte Luis eines dieser Grundstücke. Sie bauten eine Casita, einen Bretterverschlag mit einem kleinen Wohnzimmer, indem die Frauen sogar Stofftischdecken auflegten, wenn sonntags ein Ferkel über dem Feuer geröstet wurde. Rundherum pflanzten sie Kräuter und Gemüse an. Auberginen, Tomaten, Kürbisse, Mais. Das konnten die meisten noch gut, denn viele von ihnen waren in Puerto Rico auf einem Bauernhof groß geworden.

In und um Cabo Rojo entstand so etwas wie ein funktionierendes öffentliches Leben, mitten in einer bürgerkriegsartigen Zone, mitten in der South Bronx. Die Menschen hatten einen Ort, an den sie gehen konnten, wenn sie aus ihren Hochhauskästen traten, deren Gänge nach Urin stanken und deren Stockwerke die Drogenhändler in Absatzmärkte aufgeteilt hatten.

Cabo Rojo war nur einer von gut drei Dutzend Gärten, die in der South Bronx in den Achtzigerjahren auf verwahrlosten Grundstücken entstanden. Freilich, er war ein besonders schöner und besonders beliebter. Und Cabo Rojo tat für Luis, was viele dieser Gärten für viele Leute im Viertel taten. Luis stieg aus dem Gang-Leben aus, hörte auf, mit Drogen zu handeln. Stattdessen arbeitete er wieder als Zimmermann und pflegte täglich den Garten. Er harkte und bepflanzte ihn, und nachmittags kümmerte er sich um die Kinder aus der Nachbarschaft.

Aresh lernte Cabo Rojo erst kennen, als der Garten schon bedroht war. Er lebte damals als Student, Fotograf und freier Theaterschaffender auf der Lower East Side Manhattans. Die Lower East Side durchlief den Zyklus von Vernachlässigung, Ghettoisierung und Gemeinschaftsbildung in Selbsthilfe rund zehn Jahre früher als die Bronx. In den entstandenen Gärten der Lower East Side trafen sich am Wochenende Künstler wie Aresh mit der ebenfalls zumeist lateinamerikanischen Bevölkerung, die wie die Bohemiens und Intellektuellen am Rande des überteuerten, dekadenten New York lebten.

Ein paar Jahre lange konnten die Anwohner ihre Gärten recht ungestört genießen. Bis Rudolph Giuliani kam. Als der Republikaner das New Yorker Rathaus übernahm, gerieten diese Rückzugsorte schlagartig in Bedrängnis. Giuliani befand, die Grundstücke gehörten der Stadt. Er verteilte Mietverträge an die Besetzer – mit 30 Tagen Kündigungsfrist bei Eigenbedarf. Würde er einen finanzkräftigen Grundstücksspekulanten finden, könnte er so die unbequemen Mieter schnell loswerden. Aresh und seine Mitstreiter fragten sich, warum sie etwas mieten sollten, was ihnen gehörte. Schließlich hatte sich das Volk doch nur genommen, was ohnehin sein Eigen ist.

So organisierten sie eine Koalition zum Erhalt der Gärten in New York: „More Gardens“. 650 waren es, die meisten in den schlimmsten Vierteln – der Lower East Side, East New York, Brooklyn, Harlem und eben der Bronx. Bis es im Winter von 2001 auf 2002 Cabo Rojo an den Kragen gehen sollte, hatte „More Gardens“ bereits durch Demonstrationen und medienwirksamen Widerstand gegen polizeiliche Räumungen erreicht, dass die Versteigerung der Grundstücke durch die Stadt per einstweiliger Verfügung gestoppt wurde. Zumindest bei Eliot Spitzer, dem obersten Staatsanwalt des Staates New York, fand die basisdemokratische Auffassung Gehör: In guter amerikanischer Tradition gehöre das Land den Menschen, die sich darauf niedergelassen haben.

Noch war das letzte Wort nicht gesprochen, die Zukunft der Gärten ungewiss. Giulianis Nachfolger, Michael Bloomberg, war zu Beginn des Winters 2001 noch zu frisch im Amt, um sich des Gartenstreits anzunehmen. Cabo Rojo war einer der Gärten, die Giuliani noch aus der Obhut der Parkverwaltung genommen hatte und unter die Hoheit des Housing Project Development – einer Art Amt für Wohnungsbau – stellte, um sie an private Bauherrn verkaufen zu können.

Es war Zufall, dass Aresh und einige Dutzend weitere Politaktivisten gerade im Cabo Rojo waren, als Polizisten anrückten, um den Garten zu räumen. Luis hatte einen Ofen gebaut und Holzfeuer gemacht und einige der Globalisierungsgegner untergebracht, die wegen der Weltwirtschaftskonferenz in New York waren. Als die Polizeiwagen vorfuhren, setzte Aresh per Mobiltelefon sofort seine Maschinerie in Gang – innerhalb von weniger als einer Stunde waren alle lokalen Fernsehsender und Zeitungen vor Ort.

Das war dem neuen Bürgermeister zu viel Scheinwerferlicht – er zog seine Leute ab. Auch der zweite Versuch der Übernahme, drei Monate später, wurde ihm nicht bequemer gemacht. Luis hatte mittlerweile auf dem Gartenhäuschen eine Betonwanne installiert, und Aresh ließ sich von seinem Puerto Ricanischen Freund die Arme in das Dach gießen. Vor laufenden Kameras mussten Polizisten Aresh, der blau gefroren auf dem Dach saß, aus dem Beton herausschneiden und ins Krankenhaus abführen.

Die Schlacht ging letztlich verloren – Cabo Rojo wurde zubetoniert und bebaut. Doch nach der Räumung wuchs der öffentliche Druck auf Bürgermeister Bloomberg derart, dass er sich des Problems annehmen musste. 300 Gärten stellte er unter Schutz, weitere 200 unterstellte er wieder der Parkverwaltung und entzog sie damit dem drohenden Zugriff der Spekulanten. 150 Fälle sollen geprüft werden. Aresh, Luis und ihre Leute kämpfen jetzt um den Erhalt dieser 150 Gärten.

20 von ihnen liegen in der South Bronx, keiner davon mehr als 500 Meter entfernt von der Stelle, an der Cabo Rojo stand. Einige sind prächtig, mit zwei Meter hohen Rosenstöcken und Kräuterbeeten, in denen handgemalte Schilder stecken. Andere sind wüst und verwildert, aber genutzt werden sie alle. Von Jose Riviera etwa. Der ehemalige Militärpolizist und jetzige Installateur wohnt seit 45 Jahren in der Bronx. An einem Dienstag nach Feierabend sitzt er mit drei Frauen aus der Nachbarschaft unter einer Weinrebe im Rincon Criollo, der „heimischen Ecke“, an der Melrose Avenue, zwischen einer Methadon-Klinik und einem Spielplatz gelegen. Er nippt an einem Bier und schimpft: „Mann, wo sollen wir denn sonst hingehen? Wir sind doch keine Maschinenmenschen, die aus ihrem Hochhaus zur U-Bahn laufen, zehn Stunden arbeiten und dann wieder in ihrem Hochhaus verschwinden.“

Immerhin hat sich mittlerweile die Politik das Ziel gesteckt, das Ghetto für die Menschen, die dort wohnen, lebenswerter zu machen. Für die South Bronx ist ein Stadtteilerneuerungsplan in Kraft, der verhindern soll, dass, wie an vielen Orten New Yorks, die sozial schwache Bevölkerung verdrängt wird. „WeStay/Nos Quedamos“, eine Bürgervereinigung aus der Bronx, hat zu diesem Zweck 8,2 Millionen Dollar aus Bundesmitteln erhalten, um sozialverträgliche Wohnungen für die Armen und die Alten im Stadtteil zu bauen. „Bad Credit History – no problem“, steht auf dem Verkaufsschild vor einem der wenigen neu gebauten Zweifamilienhäuser.

Aresh und Luis sind mit dem Programm einverstanden. Nur in einem Punkt nicht – den Gärten. Zwar sieht der Plan vor, für jeden Garten, der weichen muss, an anderer Stelle einen neuen zu bauen. Doch das reicht Aresh und Luis nicht. Die existierenden müssen bleiben, so ihre Forderung. Denn dort ist Gemeinschaft gewachsen.

Yolanda Garcia von We Stay/Nos Quedamos erkennt den Wert der Gärten für das Viertel an. Dennoch hat für sie der Wohnungsbau Priorität: „Wir müssen eine Balance finden. Es gibt hier Obdachlose. Es gibt Wohnungen, in denen drei oder vier Familien leben. Wir brauchen hier eine massive Erneuerung. Und wenn der Wind der Erneuerung weht, zittern alle.“

Aresh und Luis zittern nicht. Zwar teilen sie die Ansichten von Yolanda Garcia, was die Erneuerung der South Bronx angeht, aber in der Frage von Gärten bleiben sie hart. An Luis’ Oberarm prangt der Name „Cabo Rojo“ – neben einem Piratenkopf.