Der letzte Schlagbaum

Wenn nur E.T. noch helfen kann: Trennungsschmerz ist ein großes Thema im Werk von Jim Sheridan, der mit „In America“ einmal mehr Familiengeschichte aufarbeitet. Doch überspannten Mystifikationen zum Trotz rettet das Ensemble den Film

VON BIRGIT GLOMBITZA

Ob autobiografisch gefärbte Vater-Sohn-Konflikte wie in „Im Namen des Vaters“ oder die Reminiszenzen an die eigene Mutter, wie sie den Film „Mein linker Fuß“ grundierten – nichts beschäftigt Jim Sheridan so wie das Eigene. Dafür steht die Familie mit ihren Überlebensinstinkten ebenso wie Irland mit seinen Bruder- und Bürgerkriegen und einer Vergangenheit, die nicht zum tragisch abgeschlossenen Mythos taugt, weil sie der Gegenwart noch zu ähnlich ist. Gebrochen durch die perspektivische Verlagerung in die dritte Person hat Jim Sheridan so seine persönliche Geschichte umkreist und sie immer wieder mit den Traumata seiner Heimat synchronisiert.

Mit „In America“ scheint er jetzt einen der letzen Schlagbäume zu passieren, die das vielleicht Allerheiligste dieser Geschichtsschreibung markieren: den Abschied von den Toten. Der Regisseur selbst nennt die anrührende Geschichte von einer irischen Familie, die nach Amerika zieht, um endlich über den Tod ihres Jungen hinwegzukommen, seinen „persönlichsten“ Film und bescheinigt ihm damit eine besondere Position in seinem Werk. Wenn der Film am Ende als seinen eigentlichen Adressaten Sheridans verstorbenen Bruder Frank offenbart, doppelt diese Widmung die Intimität einer Familiengeschichte noch einmal und überführt sie in die Aura kaum antastbarer Privatmythologien.

Sheridans Trauerarbeit beginnt an der Grenze zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten. Von dort aus war der Regisseur 1981 selbst mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern Naomi und Kristen, die beide am Drehbuch beteiligt sind, eingereist. Im Film heißen die Eltern Johnny (Paddy Considine) und Sarah (Samantha Morton). Als der Grenzbeamte das Ehepaar nach der Anzahl ihrer Kinder fragt, antwortet Johnny reflexartig „drei“ und schaut hilflos zu den Töchtern auf den Rücksitz. „Zwei“ korrigiert ihn seine Frau tapfer. Denn seitdem ihr Junge an einem Gehirntumor gestorben ist, muss Sarah stets den Abgleich zwischen gewohnter Familienidylle und den Endgültigkeiten des Faktischen allein übernehmen. Bis auch Johnny sich wieder in der Gegenwart eingerichtet hat, soll es noch dauern.

Das Paar bezieht eine Dachwohnung in einem heruntergekommenen New Yorker Mietshaus. Sarah sucht sich einen Job, bastelt Halloween-Kostüme für die Kinder und malt Goldfische auf die angerostete Badewanne. Johnny vermasselt ein Vorsprechen nach dem anderen und fährt schließlich Taxi. Als es im Sommer unerträglich heiß wird, macht die Familie einen Ausflug ins vollklimatisierte Kino und findet in „E.T.“ einen Leidensgenossen. Das faltige Geschöpf, das alles dafür tut, um einen Draht zu seinem Ursprung zu behalten, wird ihr etwas aufdringlicher leitmotivischer Begleiter. Um eine E.T.-Puppe auf der Kirmes zu gewinnen, riskiert Johnny alle Ersparnisse. Wenn die große Schwester der kleinen in einer klaren Mondnacht weismacht, dass E.T. da oben gerade heimradelt, wird das zum perfekten Moment, in dem sich der Vater endlich von seinem Sohn verabschieden kann.

Auch die Mystifizierung des Mietshauses, in dem neben der Familie der todkranke Maler Mateo lebt, wirkt überspannt. Da sehen wir in einer Parallelmontage, wie die Eltern das erste Mal seit langer Zeit wieder Sex haben und wie der Künstler ein Stockwerk unter ihnen mit wildem Blick eine Leinwand mit Blut überzieht: sozusagen die Inkarnation der Familienzusammenführung. Das ist eine recht platte kultische Verknüpfung von Sex und Tod, Passion und Obsession, in der der Film vor der Wucht seines Anliegens für einen Moment in die Knie geht.

Dass „In America“ in solchen überspannten Passagen keinen größeren Schaden nimmt, hat Sheridan der kindlichen Erzählperspektive – Tochter Christy, stark im Wunschglauben, begleitet Teile des Geschehens mit ihrer Videokamera – und vor allem seinem Ensemble zu verdanken. Allen voran Samantha Morton, die die Rolle der Sarah nicht mit dem Nimbus eines vor Selbstlosigkeit dampfenden Muttertiers umgibt, sondern mit angenehmer Patzigkeit unterfüttert. Ohne ihren Widerspruch, ihr unaufhörliches Trotzdem wäre Sheridans fiktionalisierte Privatheit eine Spur zu glatt, zu linear und folgerichtig ausgefallen.