Vom Nutzen eines Tabus

Von JAN PHILIPP REEMTSMA *

DIE spezifische Herausforderung, vor die der Antisemitismus den Sozialwissenschaftler (sei er Soziologe, Historiker oder Psychologe) stellt, ist seine besondere Mischung aus Konstanz und Variation. Der Antisemitismus ist die längstdauernde Obsession Europas – er hat den religiösen Kontext, in dem er entstanden ist, besser überdauert als dieser selbst –, und kommt doch – auch außerhalb europastämmiger Kulturen – immer wieder daher, als wäre er gerade neu erfunden worden. Der christliche Vorwurf des Gottesmordes steht nicht mehr im Vordergrund antisemitischer Propaganda und ist doch alles andere als vergessen. Gleichzeitig gelingt es dem Antisemitismus immer wieder, sich als Element in aktuelle politische Diskussionen einzumischen, ein, wie Sartre es formuliert hat, „Molekül, das sich mit beliebigen anderen Molekülen verbinden kann, ohne sich selbst zu verändern“. Der Fall Hohmann war instruktiv. Die These, die der CDU- Abgeordnete in seiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit vertrat, Wurzel des Bolschewismus wie des Nationalsozialismus sei die moderne A-Religiosität gewesen, war, für sich genommen, weder neu noch antisemitisch. […]

Nach Hohmann ist es nicht gerechtfertigt, die Deutschen ein Tätervolk zu nennen, weil die Nazis keine Christen gewesen seien – wären nur Christen gute Deutsche? Da wäre er denn bei Treitschke angekommen. Bei dem natürlich auch „der Jude“ einer war, unabhängig von dem, was er glaubt. Anders als das Christ-Sein kann man bei Hohmann das Jude-Sein nicht einfach ablegen, denn auch die nichtjüdischen Juden unter den Bolschewiki waren ja doch, bis heute identifizierbar, Juden. Es mag einer wie der deutsche Christ Hohmann den Juden das Attribut des Tätervolks ersparen – in letzter Minute sozusagen: „Wir müssen genauer hinschauen …“–, die Zuschreibung, Jude zu sein, steht nicht zur Disposition, und es ist immer der Antisemit, dessen Attribuierungshoheit hier bekräftigt wird.

„Jüdischer Bolschewismus“ lautete das Schlüsselwort, mit dem Hitler und seine Generalität den Massenmord an Juden in den Gebieten der Sowjetunion und damit die Einleitung des Massenvernichtungsprogramms legitimierten. Ob Hohmann gewusst hat, dass seine den von ihm benutzten Geschichtsbüchern abgenötigte Erkenntnis – Juden hätten im Bolschewismus eine besondere Rolle gespielt – diese Legitimationsrhetorik neu herausbrachte, weiß man nicht, es steht aber zu vermuten, denn der Hinweis, auch Woodrow Wilson habe vom „jüdisch geführten“ Bolschewismus gesprochen, ist eine von den klassischen Schlaumeiereien, wie sie für trainierte Antisemiten charakteristisch sind: Sie hätten’s ja selbst nicht glauben wollen, aber ganz unverdächtige Zeugen sagten es ja auch. Es spielt aber so wenig eine Rolle wie die Frage, ob er sich, wäre ihm das klar gewesen, rhetorisch zurückgehalten hätte – so, wie man ihm das zunächst nahe gelegt hatte. Der Gedanke ist ja nicht beliebig, er ist obsessiv und war schon 1917 nicht neu: es ist der von der jüdischen Verschwörung.

Dieser Gedanke aber war einmal neu. Zwar gibt es Elemente, die weit zurückreichen. Er traf die Juden, aber weit mehr noch die Christen, und kann immer jede Religion treffen, die sich einen gewissen Exklusivitätsstatus zuschreibt, wenn die politischen Verhältnisse diesbezügliche Nervositäten befördern. Ein wirklicher Topos aber wurde er nach den Vertreibungen und Zwangsbekehrungen in Spanien nach der Vereinigung von Kastilien und Aragon unter Isabella und Ferdinand und der Beendigung der Reconquista mit dem Fall der Alhambra. Man fundierte den neuen christlichen Staat radikal antimoslemisch und antijüdisch. Die Juden konnten wählen: Konversion oder Emigration. Das Problem, das für das christliche Spanien erwuchs, war doppelter Natur. Man hatte Juden im Land, die nach eigener, christlicher Definition keine mehr waren, aber man traute ihnen nicht, schließlich hatten sie in einer Zwangslage gewählt. Man begann sie auszuspähen, zu verhören, allseitig zu überprüfen. Man erfand Abstammungsgesetze. Man fürchtete eine jüdische – und wer Jude war, bestimmte nunmehr der antijüdische Konsens – Unterwanderung des spanischen christlichen Staates und, ausgehend von den vertriebenen Juden, eine Verschwörung gegen das europäische Christentum insgesamt: In Spanien interpretierte man die Spaltung der christlichen Kirche nach Luthers deutschen Erfolgen als Resultat jüdischer Umtriebe. Von da an standen hinter den Erschütterungen und Bedrohungen europäischer Normalität stets die Juden: die in Wallstreet oder die in Moskau.

Die Idee der jüdischen Verschwörung ist also nicht Ursache des Antisemitismus, sondern Folge antijüdischer Politik. Sie ist das, was man erwartet, weil man Angst hat, mit dem, was man anrichtet, vielleicht doch nicht einfach so durchzukommen. Für Treitschke war die jüdische Einwanderung aus Polen im 19. Jahrhundert darum etwas, vor dem er meinte warnen zu müssen, weil diese Juden die Nachkommen der Juden seien, die während des Mittelalters von den Kreuzfahrerheeren dezimiert und aus dem Rheinland vertrieben worden seien. Viktor Klemperer notiert, dass der jüdische Friedhof ein sicherer Ort für konspirative Gespräche sei: die Gestapo traue sich da nicht hin.

Lang dauernde Verfolgungsgeschichten produzieren ihre eigenen Rechtfertigungen. Aus der Sorge, es könnte sich irgendwann einmal rächen, was man getan hat, entsteht die Furcht vor dem, der auf Rache sinnt – das Shylock-Schema. Am Ende stabilisieren sich lang dauernde Verfolgungsgeschichten selbst, indem sie ihre eigene Legitimation werden: Irgendwas muss an den Juden doch sein, dass wir sie so andauernd verfolgen. Von dort öffnet sich das historische Feld. Jetzt ist jedes Beispiel, dass irgendwo irgendein Jude irgendetwas getan hat oder an etwas beteiligt war, das man nicht schätzt, ein unwiderleglicher Beleg: Da kann man es wieder einmal sehen. Ich kenne das aus der eigenen Familie. Meine Mutter erzählte mir einmal, ich hätte als Kind gefragt, was Hitler denn gegen die Juden gehabt hätte. Sie hätte mir nicht zu antworten gewusst. Das nun war nicht die Pointe der Geschichte, sondern nur ihre Einleitung. Sie hätte das nämlich ihrer New Yorker jüdischen Freundin erzählt, und die hätte erwidert, darin bestehe ihre einzige Genugtuung: zu wissen, dass deutsche Eltern solche Fragen gestellt bekämen. „Und die will nun meine Freundin sein!“, war das Fazit.

Aber zurück zu Hohmann. Sein Aktualitätsbezug lag ja nicht in seiner Interpretation der Oktoberrevolution, sondern in der Verwendung des Wortes „Tätervolk“, das man, wenn-und-nur-wenn-versteht-sich, nicht nur auf die Deutschen, sondern auch auf die Juden, aber besser wohl auf beide nicht, und so weiter – darin lag Hohmanns Pointe, er war in seinen Affekten und Reflexen auf der Höhe der Zeit. Darin besteht die Stärke des Antisemiten: Seine paranoide Nervosität zeigt ihm, wo es einen anderen sticht, dem er dann erklären kann, was das wieder mit den Juden zu tun hat. Nun hat die Sache mit dem „Tätervolk“ allerdings eine Menge „mit den Juden zu tun“. Nur das Wort „Tätervolk“ ist, so viel ich sehe, eine eigene Kreation, die dazu dient, endlich wieder von den Juden als einem Volk sprechen zu können. So viel zu Volk. Aber die Rede von „den Tätern“ in einer sehr raumgreifenden und sehr unklaren Bedeutung des Wortes ist natürlich ubiquitär, sei es in der Fügung „Kinder der Täter“, sei es „im Lande der Täter“.

Dass hiermit etwas wie ein Wiederaufleben der Kollektivschuldthese gegeben sei, mutmaßen manche, die vergessen, dass es diese These, jedenfalls in der Form, in der sie sie zurückweisen, nie ernsthaft gegeben hat. […] Tatsächlich besteht die Kritik an der wohlfeilen, weil wenig bedeutenden Rede vom Land und den Kindern der Täter zu Recht. […] Die Abwehr des nicht erhobenen Kollektivschuldvorwurfs deckte von Anfang an die Leerstelle einer wirklichen – d. h. folgenreichen – Debatte um Schuld und Grade der Schuld, die nie stattfand. Vielleicht ist es unrealistisch, anzunehmen, dass sie hätte stattfinden können. Aber das tut nichts zur Sache. Jedenfalls ist die Leerstelle folgenreich. Sie beschert hilflose Redeweisen wie die genannten, die das meist aufrichtige, aber dennoch unklare Gefühl, irgendetwas wieder einrenken zu müssen, transportieren. Vom Schlage dieses Gefühls ist nach meinem Urteil das gesamte Unternehmen des Berliner Holocaust-Mahnmals. Sein Problem war von Anfang an, dass es darum ging, einer Anforderung genügen zu wollen, die man selbst nicht klar genug hat formulieren können. []Darum hielt sich die Debatte um die Form des Mahnmals auch bei der unsinnigen Frage auf, was es denn vermitteln könne, und ob es denn angemessen sei. Derlei können Mahnmale aber nicht. Sie können nur das ausdrücken, was man mit ihnen ausdrücken will. Aber nie ging es um die Frage, was denn die Deutschen – ja wohl: die Deutschen Ende des 20. Jahrhunderts – mit ihm sagen wollten, immer nur darum, wie es denn verstanden werden könnte. Und wenn einer vor allem eins will: nicht missverstanden werden, sagt er eben nichts oder allenfalls zu wenig und dies undeutlich. Hätte man gewusst, was man hätte sagen wollen, wäre auch allen die Diskussion über die Beteiligung oder Nichtbeteiligung der Degussa erspart geblieben. Man hätte sich vorher aufgrund der Konzeption Gedanken machen können und mit Gründen entscheiden. So aber wird das Mahnmal selber zu einem Abbild der deutschen nach-45er Vergangenheitskonfrontation: man denkt, man hat soweit alles geordnet, und dann passiert wieder etwas Unerwartetes.

Das solche Ereignisse begleitende permanente Gefühl des Unbehagens, das man endlich lossein möchte, ist für die antisemitische Leidenschaft eine ideale Gelegenheit, sich zu engagieren. Verhindern lässt sich das nicht. Wohl aber ist es nötig, eine die Geschichte der Bundesrepublik begleitende Struktur endlich zu ändern. Der Antisemitismus ist als öffentlicher Diskurs geächtet, insgesamt erfolgreich –auch wer Walser verteidigt, muss ihn damit verteidigen, dass er bestreitet, dass Walsers Buch antisemitisch sei. General Günzel flog ohne Wenn und Aber, und bei Hohmann wurde das „ohne Wenn und Aber“ nachgeholt. Aber zwischen Stammtisch einerseits und offiziellem Diskurs andererseits klafft eine Lücke, und es ist unklar, wie diese gefüllt ist und künftig gefüllt werden wird. Oft ist die offizielle Abwehr antisemitischer Äußerungen nichts weiter als eine Bekräftigung eines politischen Tabus. Tabus können nützlich sein, wenn man sonst nichts hat, aber auf lange Sicht bewirken sie keine Einsichten, sondern nur Resistenzen. Warum man eigentlich Hohmann ausschloss, was denn eigentlich an seinen Äußerungen nicht erträglich war – darüber wurde der normale Nachrichtenkonsument seitens der hauptamtlich damit befassten Politikerinnen und Politiker nicht belehrt, höchstens hier und da seitens einiger journalistischer Kommentare.

Dieser Text erscheint nur in der deutschsprachigen Ausgabe

* Gründer und Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Literaturwissenschaftler, Essayist. Zuletzt erschien: „Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug“ Stuttgart 2003. Bei dem hier abgedruckten Text (Kürzungen und Titel von der Redaktion) handelt es sich um die Dankesrede zur Verleihung des Heinz-Galinski-Preises am 26. November 2003.